Das Zipperlein | Bilder und Texte aus Wien | Peter Reichert

Das Zipperlein

Meinen ersten Gichtanfall hatte ich vor 14 Jahren. Vier Jahre lang wiederholte sich das. Der Arzt hat, als er sich mein entzündetes Großzehengelenk betrachtete, erfreut ausgerufen, als sähe er einen alten Bekannten: Ja schau da, das Zipperlein! Er grinste dumm und wollte wissen, ob ich viel gegrillt und Weißwein getrunken hätte in der letzten Zeit. Als ich das verneinte, fragte er nach meiner erblichen Vorbelastung. Volltrefferdiagnose: Auch mein Vater war damit geschlagen. Ein Gendefekt! Alles klar! Ich fragte, ob ich meine Ernährung umstellen müsse, was er unwirsch, geradezu ärgerlich, verneinte: Was wollen Sie denn machen, wenn Sie das geerbt haben? Er verschrieb mir Allopurinol, gleich ein Dauerrezept, und eröffnete mir, dass ich das jetzt halt bis an mein Lebensende nehmen müsse.

Ich wollte mich nicht in mein Schicksal fügen, recherchierte auf eigene Faust und fand heraus, dass der Harnsäurepegel im Blut sehr wohl durch die Ernährung beeinflusst werden kann! Nach zwei Jahren setzte ich das Allopurinol eigenmächtig ab und lebte seither beschwerdefrei.

Bis jetzt. Da ich mittlerweile praktisch zum Veganer geworden war dachte ich, mir könne sowieso nichts mehr passieren. So habe ich dem Alkohol über die Feiertage bedenkenlos zugesprochen. Solange noch Wein oder Bier da war habe ich freiwillig auf Wasser verzichtet. Auch in die Schalen voller Knabberzeugs habe ich vollhändig hinein gegriffen. Hülsenfrüchte als Grundlage für Suppen und Brotaufstriche schienen mir ebenso unverzichtbar wie unbedenklich. Ich schlemmte mit bestem Gewissen. Und hinterher a Schapserl musst auch sein, man gönnt sich ja sonst nix.

Trotz einer nicht auskurierten Verkühlung (so heißt hier in Wien eine Erkältung) streifte ich stundenlang im ersten Schneetreiben durch die Stadt, die Leica in den klammen Fingern, auf der Jagd nach Wintermotiven. Die Quittung dafür war ein schlimmer Husten, den ich bis heute noch nicht ganz losgeworden bin. Da ich durchaus keine Lust verspürte, schon wieder „verkühlt“ zu sein, habe ich anstatt Wasser diesmal fleißig Aspirin C getrunken. Darüber hat sich das totgeglaubte Zipperlein dann so gefreut, dass es sich gleich wieder bei mir eingenistet hat.

Nun, ich werde den ungebetenen Gast ausnüchtern, aushungern, austreiben, ausmerzen, ausschwemmen. Auf ärztlichen Fatalismus kann ich dabei verzichten. Ich gelobe im neuen Jahr Besserung vor allem was meinen Alkoholkonsum betrifft und freue mich, dass die Schmerzen bereits nachlassen und ich berechtigte Hoffnung hegen darf, trotz meiner fehlerhaften Gene bald wieder beschwerdefrei zu sein. Mein Ehrgeiz ist es durchaus, in die Geschichte einzugehen als „Der Mann, der die Podagra besiegte“. Podagra, das klingt doch gleich ganz anders als Zipperlein, viel wichtiger und ernster und größer! So gesehen bin ich meinem dumm grinsenden Schweizer Arzt sogar dankbar, dass er nur vom Zipperlein gesprochen und mir seinen wissenschaftlichen Namen verschwiegen hat. Mit so einem widerlichen Zwerg auf eigene Faust fertigwerden zu können traute ich mir zu, auch wenn die Schmerzen sehr beeindruckend waren. Heute, da ich weiß, dass die Podagra sozusagen nur ein dünkelhaftes Zipperlein ist, ziehe ich zuversichtlich in diesen Kampf, auch ohne Allopurinolverstärkung.

Wenn ich die Bilder meiner letzten Fototour im eisigen Schneetreiben betrachte denke ich mit einem gewissen Stolz, dass der Einsatz sich irgendwie gelohnt hat. Darum möchte ich sie meinen Lesern nicht vorenthalten und stelle sie in die neue Fotogalerie. 

© Peter Reichert 2018