Archiv | Bilder und Texte aus Wien | Peter Reichert

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Hier finden Sie die Einträge aus meinem Blog auf der alten Website, in chronologischer Reihenfolge.


Sonntag, 7. April 2013

In der vergangenen Woche ist so viel gelaufen, dass ich den Überblick nur mit Mühe habe. In meiner Wiener Wohnung sind die wichtigsten Reparaturen gemacht, ich habe geputzt, bis mir fast die Arme abfielen. Die Möbel sind gekauft und zum Teil schon aufgestellt. Heute werde ich mich da schon an einen Tisch setzen können, ab morgen wird auch Übernachten möglich sein, nachdem das Ikea-Team mein Bett geliefert haben wird. Mein Name steht auf dem Türschild und am Briefkasten. Ich bin nun Inhaber einer Jahreskarte der Wiener-Linien und einer ÖBB-Vorteilscard, beides zum nochmals verbilligten Senior-Tarif. Ich besitze eine Österreichische Handynummer. Ich habe den ersten Zahnarzttermin in Wien hinter mir. Schon in den ersten Tagen nach meinem Einzug gibt es Termine für das Einrichten von Internet und Fernsehen. Eine Nachmieterin für meine Neuenhofer-Wohnung ist gefunden. Nach meiner letzten Heimreise Richtung Schweiz werde ich die verbleibenden drei Wochen mit Räumen, Packen und Büroarbeit verbringen, bevor ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Ob es der letzte sein wird? Sicher einer der letzten. Das Ziehen und Reißen in Muskeln und Knochen nach den ungewohnten Anstrengungen erinnert mich penetrant an mein Alter. Doch die Freude lässt das immer wieder vergessen. Ich freue mich auf mein Leben in dieser Stadt, in dieser Wohnung, befreit von so vielem Ballast, den ich bis jetzt immer mitgeschleppt habe, jetzt aber endlich zurücklassen werde. 


Montag 8. April 2013

Alles bereit hier für meinen Einzug – bis auf das Badezimmer. Heute habe ich beschlossen, es ganz neu machen zu lassen. Genug davon, das die Behebung des einen Mangels gleich den nächsten offensichtlich macht, z. B. dass beim Einsetzen eines neuen Syphons befürchtet werden muss, dass sich dabei die ganzen Fliesen lösen . Das würde jahrelanges Fickwerk bedeuten. In den drei Wochen meiner letzten Abwesenheit soll alles gemacht werden. Dann werde ich eine altersgerechte Dusche mit ebenem Einstieg ohne Stufe haben. Ehre, wem Ehre gebührt …


Dienstag 9. April 2013

Meine letzte Heimreise in die Schweiz, wo ich mein ganzes bisheriges Leben lang zu Hause war, ohne mich je wirklich heimisch gefühlt zu haben unter der Käseglocke bei den kleinen Gernegroßen, die nur sich selber zugehören.

Mein Herz bleibt ihn Wien und muss da drei Wochen ohne mich auskommen, in meiner schon zum Teil eingerichteten Wohnung, wo in der Zeit meiner Abwesenheit das Badezimmer neu gemacht wird, weil es meinen schweizerischen Qualitätsansprüchen nicht genügte mit seinen undichten Fliesen, Wasserarmaturen und defekten Duschetüren … so werde ich nach meiner Ankunft wohl zunächst einmal mit dem Wegputzen des Baustaubes beschäftigt sein. Da wird sich, wie in der offiziellen Broschüre des Eidgenössischen Departements des Äußern für Auswanderungswillige sicherlich nicht ohne gute Gründe zu bedenken gegeben wird, die erste Euphorie wohl bald legen, der graue Alltag wird einkehren. Leider wird die späte Einsicht dann zu spät kommen, dass in der Schweiz halt eben doch alles besser, viel besser ist. Somit steht zu befürchten, dass ich schon bald wieder reumütig um Wiederaufnahme in die Kreise der Gartenzwerge betteln werde …

… Schön, nach den anstrengenden Tagen des Organisierens und Einrichtens heute einen ganzen Tag im Zug verdösen zu können, sich einen Kaffee servieren zu lassen, ein Mohnstangerl zu essen und den Gesprächen der Mitreisenden zu lauschen, die in diesem breiten Österreichisch geführt werden, das für mich hart an der Grenze der Verständlichkeit liegt. Über der Formulierung der Bekanntgabe meiner Auswanderung in zwei Ausführungen, einer amtlichen und einer privaten, ist die Zeit seit dem Einsteigen rasch vergangen. Schon bald wird der Zug Salzburg erreichen. Zwar scheint die Sonne immer wieder zwischen den vielen Wolken hindurch, in der Ferne grüßen die Berge, dennoch kommt kein richtiges Frühlingsgefühl auf. Die Landschaft liegt müde im diesigen Licht, wie leicht benommen noch vom Kälteschock der vergangenen Wochen. Wenige Spaziergänger sind dick vermummt unterwegs, kaum irgendwo leuchtet ein Frühlingsgelb oder -grün auf. Die Natur wirkt misstrauisch. Dennoch genieße ich hinter der Scheibe die Sonnenwärme auf meinem Gesicht, blinzle träge in die hügeliger werdende Landschaft hinaus und in die Ferne, wo Schneeberge ihre Gipfel in den Wolken verbergen.

Je länger die Fahrt dauert, desto mehr dickt die Zeit ein, bis sie schließlich ganz still steht. Die Gedanken werden immer träger beim Einfangen der Wörter; bald werde ich kapitulieren und den Rest der Reise unbeschrieben untergehen lassen, das Weiterleben auf morgen vertagen, trotz dem Verdacht, dass im Hintergrund weiter gezählt und gemessen wird, dass das Leben da drinnen so an mir vorbeifliegt wie die Landschaft da draußen und dass ich nichts davon je werde zurückerhalten. Die Illusion, Zeit zu "haben" erweist sich stärker als die Angst, sie zu verlieren. Solange das Gefühl des Seins nicht verloren geht, findet Leben statt ohne Zeit und überlässt sich der Ewigkeit. Um mühelos mit einem Wimpernschlag auf die andere Seite zu wechseln, wo Sabina ist, genügt es, die Augen zu schließen.


Sonntag 5. Mai 2013

Mein Badezimmer ist noch nicht fertig, so dass ich noch bei meiner Tochter wohne. Heute absolviere ich ein Touristenprogramm: 10:15 bis 11:45 Messe im Stephansdom, mit Chor, Orchester, Solisten, Orgel. Musik von Mozart. Berührt und gegen Schluss zunehmend bewegt nahm ich am ebenso vertrauten wie fremd gewordenen Ritual teil. Den Händedruck zum Friedensgruß tauschte ich mit einigen jungen, herzlich lächelnden Menschen. Während der Bitte für die Verstorbenen musste ich die Tränen niederkämpfen. Zum Schluss spielte der Organist die C-Dur-Fuge von Bach, mit der Augmentation des Themas im Bass gegen Schluss, nur genießbar, wenn man nach vorn nahe zur Orgel ging, um die verwischende Akustik auszuschalten. Nach einem kurzen Imbiss, einer Käseschnitte, zu welcher befremdlicherweise Mayonnaise gereicht wurde, machte ich die knapp einstündige Führung durch die Staatsoper mit, quasi in memoriam meines Vaters, für den ich von Bühne, Seitenbühne und Schnürboden sogar Fotos gemacht habe. Das Wetter wird zunehmend gewittrig, mein Kopf dumpf. Ich werde den Rest des Tages wohl verdösen, was mir nicht in den Sinn käme, wäre ich nur für ein paar Tage hier wie bisher. Wien rennt mir nicht mehr davon, auch wenn meine Lebenszeit unverändert schwindet. Raum und Zeit bedingen sich auch hier gegenseitig. Nur die Stimmung ist anders, die Tonart, die Farbe, die Anmutung. Ich bin anders! Jedenfalls fühle ich mich so.


Samstag, 11. Mai 2013

Jetzt ist es soweit. Das Badezimmer ist fertig, die Wohnung bezogen. Da sitze ich nun zum ersten Mal mit mir allein hier, in meiner Wohnung, sitze an einem neuen Tisch, schreibe stumpfsinnig auf, was mir durch den Kopf geht, wehre mich gegen den Schlaf, der mich mitten im Nachmittag anfällt, von hinten, mir die Augen zudrücken will. Draußen ist es regnerisch; ich war drei Mal einkaufen, bis ich das Nötigste zusammen hatte. Jetzt besitze ich vier Teller, ein paar Löffel, Gabeln, Messer. Der Kühlschrank kühlt Joghurt, Milch, Würstchen, im Vorratsschrank findet man Pasta, Reis, Salz. Aus dem Lautsprecher scheppert unverbindlicher Pianojazz, neben mir auf dem Schreibtisch liegt die amtliche Bescheinigung des Daueraufenthaltes der Magistratsabteilung 35 der Stadt Wien, das zuständig ist für Einwanderung. Auf dem Fenstersims neben mir dampft die leere Kaffeetasse noch weiter, so schnell habe ich ausgetrunken. Hinter der Wand, vor der ich sitze, ist ein Hotelappartement. Das chinesische Paar, das zur Zeit hier wohnt, wurde heute morgen so laut, dass ich zuerst meinte, sie bringen sich um. Nachdem ich begriffen hatte, dass es sich um Liebe auf chinesisch handelte, fing ich mit dem Zusammensetzen meines Garderobenständers an, habe dabei ein wenig heftiger gehämmert, als nötig gewesen wäre, weniger, um sie zu stören, als um sie zu übertönen.

Kein neues Leben hat begonnen, das alte wird weitergeführt an neuem Ort. Noch suche ich immer wieder Sachen, die ich zurück gelassen habe. Belustigend, was für Nippes mit mir hierher gezogen ist, und wieviel Brauchbares, um das ich froh wäre, zurückgeblieben ist. Ich muss mir wieder einen Gemüseschäler kaufen. Dafür ist ein Schlumpf aus Plastik mitgekommen, den mir Sabina einmal schenkte. Auch der kleine Schutzengel aus Holz aus meiner Kindheit ist trotz abgebrochenen Flügelchen mitgeflogen, während sämtliche Scheren zurück geblieben sind …


Sonntag, 19. Mai 2013

Pfingstgottesdienst im Stephansdom, über weite Strecken lateinisch zelebriert. Das hat mich ganz unerwartet berührt, wie Klang aus ferner Kindheit. Ganz selbstverständlich kamen die lateinischen Antworten über meine Lippen, als wäre das letzte Hochamt in der Herz-Jesu-Kirche in Zürich-Wiedikon erst vergangenen Sonntag gewesen. Ein Gefühl der Geborgenheit. 

Wieder zu Hause, in meiner immer noch nur mit dem Notwendigsten ausgestatteten Wohnung, wird mir immer deutlicher: Dieser Klang aus der Vergangenheit, sein Anklang in meinem Innern, das ist das Wesen der Erinnerung. Hier in meiner Wiener Wohnung, wo ich noch keinen Monat lebe, wo mich nur ganz wenige Erinnerungsstücke umgeben, werde ich auf die Essenz des Daseins gestoßen, die Resonanz auf das scheinbar Äußere mitten in meinem Herzen, wodurch es zum Innerlichen wird. Diese dünne Haut, die Innen und Außen, Diesseits und Jenseits solange trennt, bis wir verstehen, dass unser Erleben die Verbindung ist, das aus dem Leiden an der Geschiedenheit und der Sehnsucht nach der Einheit besteht und dessen Glück in der Ahnung des All-Eins-Seins besteht.

Meine Flucht vor den Stätten der Erinnerung, mein Zurücklassen der Gegenstände der Erinnerung haben mich zur Essenz der Erinnerung geführt, zu dem, was mit mir untrennbar und unauflösbar verbunden ist. Wie das auszuhalten ist, wird sich zeigen. 

Draußen zieht sich der Himmel zu, Wind wirbelt durch die Straßen, bald wird es wohl ein Gewitter geben. Gut, zu Hause zu sein.


Freitag, 24. Mai 2013

Langsam gehen die "Schweizer-Vorräte" aus. Papiertaschentücher, Putzlappen, Spülmittel aus der Migros müssen durch österreichische Produkte ersetzt werden. Zum Einkaufen muss ich hier vorerst viel mehr Zeit einplanen als in der Schweiz. Alles muss gesucht werden, sieht anders aus, das Salz hab ich glatt übersehen. Der fettarme Kaffeerahm heißt jetzt "Die leichte Muh". Viele große Marken sind natürlich in vertrauter Optik auch hier vorhanden: Knorr, Nivea, Kellogs. Bei den Knorr-Tassensuppen findet man hier andere Geschmacksrichtungen, zum Beispiel die Französische Knoblauch Suppe mit Croutons. Wer entscheidet wohl, was dem schweizerischen Geschmack entspricht und was nicht? Oder sind es gar aus Schweizer Sicht bedenkliche Inhaltsstoffe? Ich drehe die Packung hin und her, lese das ganze Kleingedruckte, die Zusammensetzung, bei deren Studium mir auch in der Schweiz jedes Mal der Appetit vergangen ist. Für den Laien keine Unterschiede feststellbar; aber hier siegt die Neugier, ich kaufe das Produkt. Keine künstlichen Farbstoffe, kein Zusatz von Geschmacksverstärkern, ohne Konservierungsstoffe, das nimmt man doch Antioxidationsmittel, Maltodextrin und sogar Aroma glatt in Kauf. Immerhin 4,1 % echter Knoblauch! Nein, Singles in Wien leben nicht schlechter als ihre Schicksalsgenossen in Zürich oder Bern, was Äußerlichkeiten betrifft.

Die Innerlichkeiten, das war mir ja klar, ändern sich kaum. Ein Satz, den ich von einigen meiner Lieben in letzter Zeit zu hören bekam: Man nimmt sich überallhin mit. Wo man mit sich allein ist, spielt keine Rolle. Fühle ich mich gut, ist das Leben hier spannender, fühle ich mich schlecht, ist es hier einsamer. Was in letzterem Fall hier leichter ist: Ausweichen. Ich brauche nur vor die Tür zu gehen, ein wenig zu schlendern, mich in ein Tram oder die U-Bahn zu setzen, um mich selber nicht mehr als Hauptfigur zu sehen. Zwar spiele ich noch im gleichen Stück mit, aber auf einer viel größeren Bühne. Viel mehr Statisten beleben die Szene, und ich selbst gehe darauf inmitten anderer Komparsen herum, ohne dem Wahn zu verfallen, mich als Hauptdarsteller zu sehen. Das war in Neuenhof anders, wo das Leben auf der Straße durch Autos ersetzt wird, die pausenlos hin und her und im Kreisel vorbeifahren. Nie verließ mich das Gefühl, nirgendwo zu sein. Stundenlange Spaziergänge auf Trottoirs, ob nach Wettingen, nach Baden oder nach Spreitenbach, das machte keinen Unterschied. Mit jedem Schritt stieg ich nur weiter in mich selbst hinunter. Einzig im Wald oben war Aufatmen, nur dass diese Spaziergänge immer auf dem Friedhof endeten. Den Limmatweg mied ich wegen der Hunde. Nach der Heimkehr hatte ich das Gefühl, "etwas" gemacht zu haben. Wenn ich am nächsten Tag die Lust nicht fand, schon wieder nach Baden zu gehen, erfand ich Gründe, irgend eine Besorgung, etwas, was man in Neuenhof nicht bekam – schwierig war das nicht – und ging dann zielstrebig los, nur um zwei Stunden später, meist ohne das Gesuchte, heimzukehren und mich mit dem Gefühl zu trösten, wenigstens "etwas" gemacht zu haben. Das ist schon etwas anderes, im blöden Manor-Warenhaus in Baden Rolltreppen rauf und runter zu fahren, um etwas Überflüssiges nicht zu finden, oder auf manchmal ebenso ziellos begonnenen Ausflügen hier mich plötzlich in einem der zahllosen Museen zu finden, wo das eigene Elend bald in einer Ecke steht und sich schämt, sich so aufgespielt zu haben.


Mittwoch, 29. Mai 2013

Orgelkonzert im Konzerthaus. Wayne Marshall an der größten Orgel Österreichs, von der man außer dem Spieltisch aber gar nichts sieht. Das Instrument ist "hinter Gittern", schön ornamentiert und goldfarben, ein prächtiger Saal. So bekommt der Organist an seinem in die Mitte gerückten Spieltisch ungeteilte Aufmerksamkeit. Er spielte virtuos, souverän, musikalisch, transparent, mit viel Sinn für Phrasierung und Aufbau großer Steigerungen. Ich staunte über die kontrollierte Ruhe seines Spiels trotz aller Schwierigkeiten, bewunderte ihn für seine stupende Improvisation über Themen aus Bernsteins Operette “Candide". Alles perfekt und ganz erstaunlich. Warum nur wurde mir musikalisch trotzdem nie warm ums Herz? Lag es an der Konzertsaalakustik, in der die französische Romantik zerbröselte wie alter Kuchen? Wenn ich mir die Erinnerung an die Akustik zu St-Sulpice in Paris dagegen hielt, dann fehlte hier nicht weniger als die "Weihe des Hauses". Orgelromantik und -symphonik ohne die Instrumente von Cavaillé-Coll und außerhalb französischer Kathedralen – mir undenkbar! Widor und Saint-Saëns im Exil. Weniger empfindlich zeigte sich die Musik von Dupré, bei dem die Wandlung der Orgel zum Synthesizer schon in vollem Gange war (man denke an den Umbau von Guilmants schöner Hausorgel, die er von Beuchet-Debièrre elektrifizieren und um ein viertes Manual erweitern ließ). Und doch bleibt bei ihm noch alles weitgehend orgelgerecht, auch wenn ich mich schon hier zu fragen beginne, warum der Komponist die Ausführung nicht einem richtigen Symphonie-Orchester übertrug, anstatt sich mit der Sparvariante Orgel zufrieden zu geben. Wenn das Instrument, so wie hier, klanglich nicht von erster Güte ist, so bleiben halt nur kratzende Geigen, spuckende Flöten, quäkende Holz- und gepresste Blechbläser, noch dazu schlecht intonierend. Das Tutti immerhin war ähnlich überwältigend wie das eines großen Orchesters, wenn auch weniger rund und warm. Die besten Seiten der Orgel führte Marshall in seiner abschließenden Improvisation vor, die mitreißend war, weil er ihre klanglichen Stärken ausspielte, die mehr auf Effekt als auf Berühren oder gar Verzaubern angelegt sind. So bleibt die Erinnerung an einen interessanten Abend, wenn auch mehr in artistischer als in musikalischer Hinsicht.


Donnerstag, 30. Mai 2013

Gestern habe ich mir am Fernsehen eine Sendung angeschaut über den zehnten Wiener-Bezirk, Favoriten, wo ich seit nunmehr 3 Wochen wohne. Jetzt weiß ich es: ich bin im größten Bezirk zuhause, dem bevölkerungsreichsten mit 175'000 Einwohnern, also einem Zehntel der gesamten Einwohner Wiens, in einem ehemaligen Arbeiterbezirk, politisch traditionell rot, wenn auch in den letzten Jahren mit schwindenden Wählerstimmen. Hier kämpfte der Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Viktor Adler vor über hundert Jahren gegen die unmenschliche und ausbeuterische Behandlung der Arbeiter in den Ziegelwerken, die fünfzehn Stunden täglich schuften mussten und in Baracken mit bis zu siebzig Personen untergebracht waren. Der Viktor Adler-Platz ist das Zentrum von Favoriten.

Von vielen wird hier eine Ghettobildung befürchtet. Die meisten Geschäfte sind in türkischen Händen. Alteingesessene Wiener fühlen sich zunehmend fremd in ihrem Bezirk. Ich kann sie gut verstehen, mir ginge das wohl auch so, wäre ich hier aufgewachsen. Nur: ich bin auch Ausländer hier, genau wie die Türken, Serben, Kroaten, Polen. Wie sie lebe ich hier in der sogenannten Fremde, wenn auch aus anderen Gründen. Ich bin nicht zum Arbeiten hergekommen, nicht, weil schon viele meiner Landsleute hier leben. Den Österreichern fühle ich mich in der Mentalität näher, weil sie halt eine mir – wenigstens einigermaßen – verständliche Sprache sprechen – aber einer von ihnen bin ich nicht. Ausländer, ein Status, der nicht zum Selbstverständnis eines Schweizers passt. Ausländer sind immer die anderen, und sie bleiben es ungeachtet, ob sie zum gleichen Kulturkreis gehören oder nicht. Ein Italiener in der Schweiz kann noch so Sohn des Volkes sein, das einen Leonardo oder Fellini hervorgebracht hat, die auch bei uns bewundert werden – er bleibt Ausländer. Die steigende Anzahl der Deutschen in der Schweiz z. B. in medizinischen Berufen wird argwöhnisch beobachtet, auch wenn sie aus Goethes und Heines Land kommen und die Sprache beherrschen, die für uns eine Fremdsprache bleibt, obwohl sie eine der Landessprachen ist. Mit meinem Deutsch werde ich hier entweder als Schweizer oder als Deutscher angesehen, niemals als Österreicher. Nachbar zwar, aber Ausländer. Als solcher befinde ich mich hier unter meinesgleichen. Ich gehöre dazu. Endlich Ausländer!


Samstag, 1. Juni 2013

Mai vorbei

Im wunderschönen Monat Mai
verregnet und 
viel zu kalt
wär's besonders schön
hier drinnnen an der Wärme
neben dir zu sitzen und 
deine Hand zu halten

Nie mehr
deine Hand halten
ob's kalt oder warm
sonnig oder nass
draußen oder drinnen
wo und wann auch immer
schon über ein langes Jahr lang
und das war erst der Anfang
der Ewigkeit
ohne deine Hand
in meiner neben mir
so schwer und
leer

Ich denk an dich
und meine Hand wird warm
und in der Erinn'rung der Mai 
wunderschön und 
weich und 
weh


Dienstag, 4. Juni 2013

Ein 77-jähriger deutscher Urlauber – vermutlich Pensionist, wie man die Rentner hier nennt – ist mit seinem Auto verunfallt und wurde erst 23 Stunden später gefunden. Wie es heißt, wurde "seine Abgängigkeit" erst so spät bemerkt, weil er allein unterwegs war.

Die Bewohnerin der Wohnung über mir, von Deutschland hergezogen wenig früher als ich, fühlt sich allein hier, obwohl ihr Sohn im selben Hause wohnt. Einmal die Woche sehen sich die beiden, für ihn genug, für sie, wie sie sagt, zu wenig. Sie fühlt sich eingesperrt, so ohne Terrasse. Eingesperrt in einem sehr großen und schönen Gefängnis, meine ich …

Ich informiere mich, wohin man heute Abend ins Konzert, in die Oper oder ins Theater gehen könnte. Die Auswahl ist so groß, dass ich mich nicht entscheiden kann und den ganzen Abend in den Fernseher blinzle. Bei meiner Suche stoße ich auf das Angebot des Volkstheaters "Gemeinsam ins Theater", das sich ausdrücklich nicht als Partnervermittlung versteht, nur als Vernetzungsmöglichkeit, um nicht allein ins Theater gehen zu müssen. "Zusammen ist man weniger allein", so die Überschrift eines Internetportals, wo auf dieses Angebot aufmerksam gemacht wird.

Um nicht allein zu sein, machen sehr viele Menschen sehr vielfältige Anstrengungen. Wenn ich mir die Inserate der Partnersuchenden in den Print- und Online-Medien so betrachte, frage ich mich, wo diese vielen Menschen wohl im echten Leben zu finden sind. Das können doch unmöglich die blicklos vorbeieilenden Zeitgenossen auf der Straße, die mit leeren Gesichtern vor sich hinstierenden Passagiere in der U-Bahn, die hinter Zeitungen oder Torten verschanzten Gäste im Kaffeehaus sein! Wo sind sie denn, all diese Menschen, die sich selbst als aufgestellt, unternehmungslustig, jung geblieben, allzeit fröhlich und vorwärts schauend beschreiben und sich nichts sehnlicher wünschen als einen lieben gleichgesinnten Partner, mit dem sie von Wanderungen über Museumsbesuche bis hin zum Pferdestehlen alles teilen könnten?

Ich bin jetzt allein, und ich unternehme nichts dagegen. Es hat seine Richtigkeit. Alles hat seine Zeit. In meinem Leben ist jener Herbsttag angebrochen, den Rilke beschreibt:

Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

An dieses Gedicht erinnerte ich mich gestern, als ich durch Sturm und Regen zur Karlskirche pilgerte, anfangs Juni in die warme Jacke gehüllt. Ich genoss das Wetter, die Unruhe, das Alleinsein. Vielleicht ist das der Preis der Freiheit, die von niemandem bemerkte "Abgängigkeit". Ich bin allein, aber ich bin nicht leer. Der Sommer war sehr groß. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit.


Montag, 10. Juni 2013

Mehr und mehr verliert sich das Gefühl, hier in den Ferien zu sein. Zum einen wären jetzt auch die längsten Ferien vorüber, die ich als Lehrer hatte, um andern war ich noch nie so lange am gleichen Ort im Urlaub. Langsam begreife ich, was es bedeutet, jetzt hier zuhause zu sein. Einmal hab ich mich schon als Einheimischer gefühlt: ein gut deutsch sprechender japanischer Tourist hat mich nach einer Straße gefragt, die ich zufällig kannte und ihm die gewünschte Auskunft geben konnte. Er bedankte sich und sagte: Ihr habt eine schöne Stadt. IHR! Die Österreicher und Deutschen hören mir natürlich sofort den Schweizer an. Aber wenn sie dann nach meinem Wohnort fragen, nenne ich Wien. Komischer Status: Einheimischer Ausländer.

Auf meinen Streifzügen durch die Stadt wird diese in meiner Vorstellung immer zusammenhängender. Nicht nur verbinde ich mit immer mehr einzelnen Straßennamen und Plätzen eine Vorstellung, sondern vernetzen sich diese Bilder und Eindrücke auch auf meinem inneren Stadtplan, der zwar noch lange hauptsächlich aus weißen Flecken bestehen, aber zur Orientierung trotzdem immer tauglicher wird.

Die letzten zwei Tage waren schön und heiß. Auch heute wieder blauer Himmel und sommerliche Temperaturen. Gleich hänge ich mir die Fototasche um und mache mich auf. Die Hausarbeit kann warten. Das Weiterschreiben auch – bald soll's ja wieder kühler und regnerisch werden …

 

Freitag, 14. Juni 2013

Gestern besuchte ich den Zentralfriedhof. Da wird es mich wohl wieder hinziehen. Die Anlage ist so groß wie halb Zürich. Ich war nachher müde wie nach einer Wanderung. Eine Parkanlage mit unzählbaren alten Bäumen, verwinkelten Pfaden, breiten Alleen, wo man auf Schritt und Tritt berührende, kuriose, bewegende Entdeckungen macht. Auch stille Winkel finden sich, wo man in Ruhe und Beschaulichkeit der eigenen Toten gedenken kann, deren Gräber nicht hier liegen und die hier doch auf seltsame Weise gegenwärtiger scheinen als sonstwo in der Stadt.

Ein berührender Ort ist der Babyfriedhof, wo zum größten Teil vergessene und verwahrloste Gräber liegen. Kurzes Leben, kurze Erinnerung. Das sage ich nicht vorwurfsvoll. Je länger ein Leben dauert, desto deutlicher schreibt es sich ein im Buch der Zeit. Hier begegnet mir nicht das Unvollendete, weil noch nicht einmal in Umrissen erkennbar ist, was hätte werden sollen oder können, sondern das im Keim Erstickte. So erscheint es ganz passend, dass von vielen gerade noch die Holztafel übriggeblieben ist, Namen, die für die wenigen Angehörigen, denen sie überhaupt bekannt geworden sind, vor allem verbunden sein werden mit Leid und Schmerz.

Dagegen mutet es kurios an, wenn auf Grabsteinen Titel und andere Verdienste herausgestrichen werden, die durch den Tod ihrer Träger jede Bedeutung verloren haben, so zum Beispiel im Fall einer Familie, aus der viele "Realitätenbesitzer" hervorgegangen sind, eine alte Bezeichnung für Immobilien- oder Landbesitzer. Worin besteht sie nun, die Realität? –

Ein bewegender Moment war es, vor dem Grab Ligetis zu stehen. Ich erinnere mich gerne an eine Veranstaltung mit ihm an der Musikhochschule in Hamburg in den frühen neunziger Jahren, als er als Vorbereitung der Beantwortung einer Frage aus der Studentenschaft, an die ich mich nicht mehr erinnere, einen kurzen Abriss der gesamten Musikgeschichte gab, eine Gesamtschau in nur zwanzig kurzen und dichten Minuten, die ich nie vergessen werde. Ein großer Mann, ein großer Geist, vor dem ich mich an dieser Grabstätte verneigte, obwohl ich weiß, dass er sich nicht bei den sterblichen Überresten unter meinen Füßen befindet. Er wird wohl, wie man sagt, wehen wo er will, eingegangen nicht in die ewige Ruhe, sondern, wie es sich der unweit von Ligeti begrabene Maler Max Weiler (1910–2001) wünschte, in die ewige Energie.


Mittwoch, 19. Juni 2013

Donauinsel

Die Tage verdösen,
als wären sie nicht gezählt.
Noch einmal Sommer!
Dem Rinnen des Schweißes
gleichgültig hingegeben.
Träge sitzen bleiben, 
wenn der Schatten wegwandert,
Gedanken versengen,
Gefühle verdampfen.
Erinnerung
an freie Schultage,
Hitzeferien
in der Badanstalt
mit Sonnenbrand
und Zuckerwatte.
Heute nur noch Zuschauer,
mit schmal gekniffenen Augen,
zu alt,
mit waghalsigen Überschlägen
dralle Mädchen nass zu spritzen.
Unvorstellbar,
irgend wann aufzustehen,
irgend wo hin zu gehen,
irgend was zu tun.


Montag, 24. Juni 2013

Am Sonntag habe ich zum ersten Mal, seit ich hier wohne, den ganzen Tag in meiner Wohnung verbracht. Keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Mir selbst ausgesetzt. Zunächst immer in der Furcht, dass mir im nächsten Moment die Decke auf den Kopf fallen könnte, mich Trauer und Trübsinn finden und sich auf mich stürzen würden wie jeweils in Neuenhof. Nur ganz dosiert Musik gehört, um das Gemüt nicht unnötig in Wallung zu versetzen. Nichts gedichtet, nichts gemalt, nichts organisiert oder aufgeräumt. Einfach so und jetzt gelebt. Kaffee getrunken. Lebensmittel vor dem Verfallsdatum gerettet. Mal ein bisschen gelesen, mal ein bisschen ferngesehen. Radionachrichten gehört. Mails beantwortet, kurz, aber sorgfältig. Immer wieder in den Schaukelstuhl gesessen, nur um im Schaukelstuhl zu sitzen. Geschaukelt, mal bis in den Schlaf, aus dem mich wirre Traumbilder schreckten, denen ich sofort entschlossen entgegen trat und sie verscheuchte. Je länger alles gut ging, desto heiterer wurde ich. Zuversichtlich, fast übermütig. Gegen Abend sogar ein paar Fotos angeschaut von Sabina, Erinnerung zugelassen, das Experiment aber abgebrochen, bevor es kritisch werden konnte. Gegen die Kopfschmerzen, Vorboten des nahenden Wettersturzes, mit Aspirin vorgegangen. Sobald die Sonne hinter das Nachbarhaus sank, habe ich Durchzug gemacht, der aber nur wenig Kühlung brachte. Immer noch 25 Grad in der Wohnung! Eingehend das Fernseh-Abendprogramm studiert. Je länger ich suchte, desto weniger fand ich. Tatort war mit Eva Mattes, deren linkisches Spiel Sabina und mich immer so belustigt hat, wenn wir zusammen schauten. Allein schien mir das weniger lustig. Die Vorschau gab mir dann die Gewissheit, mir das nicht antun zu wollen. Die Kurzkritik im Programm lautete: Nicht ganz rund. Ich fand's ganz blöd. Zuletzt blieb nichts Gescheiteres übrig als ein Dokumentarfilm über den Beginn des zweiten Weltkriegs, Angriff auf Polen. Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen. Dazu Salzstangen. Später noch ein Glas Milch. Ein Abend, wie ich viele in Neuenhof verbracht habe, musste ich denken. Und doch war es anders. Mir kam die Bildergeschichte von Sempé in den Sinn: Verdrießlich sitzt ein Mann neben seiner Frau auf dem Sofa vor dem Fernseher. Sie ist von der Sendung völlig gebannt, so dass er sich unbemerkt davonschleichen kann. Er eilt zu seiner Geliebten, setzt sich neben sie aufs Sofa vor den Fernseher, wo die gleiche Sendung läuft, aber jetzt ist er sehr vergnügt …

Freitag, 28. Juni 2013

Meine Photographien

Aus der Zeit – meiner Zeit! –
Geronnene Augenblicke –
Verewigt! –
Herausgekrümmt
Wie Schmetterlinge aus dem Kokon
Ihrer Puppenruhe-Wirklichkeit,
Die im Bild kein Abbild fand.
Als neue Wirklichkeit
sogleich entfleuchend –
Ja: FLEUCHEND! –
Wie die Erinnerung
An die Zeit zwischen den Bildern,
Als gäbe es Wahrnehmen
Nur beim Druck auf den Auslöser.
Nur manchmal nachts
Schlüpft die Imago,
Krümmt sich hinein in meinen Traum,
Und wenn ich aufschrecke
Scheint mir,
Als wäre das alles
Wirklich gewesen!


Samstag, 6. Juli 2013

Ich kann mir die Plattitüde nicht verkneifen: Wien ist eine fantastische Stadt! Um den Versuch zu wagen, das ein wenig präziser zu fassen: Sie ist wohnlich. Bei schönem, warmem Wetter kann man den ganzen Tag unterwegs sein, ohne dass einem in den Sinn käme, zwischendurch mal heimzukehren. Man flaniert, lässt sich treiben, setzt sich irgendwo hin – es muss nicht immer im Kaffeehaus sein – und schaut den Leuten beim Leben zu. In den großen Parkanlagen stehen die Bänke einer am anderen aufgereiht, säumen die Wege, nicht nur da und dort mal eine, so dass man sich hinsetzen kann, wo und wann man will. Jetzt im Sommer liegen die Menschen auf den Wiesen, lesen, dösen, und wenn man sich hier niederlässt, vergisst man unverzüglich, dass man sich mitten in einer Großstadt befindet. Hat man genug vom Faulenzen, ist man in kürzester Zeit an einer U-Bahn- oder Straßenbahn-Haltestelle. Viele Museen und Galerien bieten eine unglaubliche Fülle an Möglichkeiten, großer oder weniger bekannter Kunst zu begegnen, Neues zu erfahren über Land, Leute, Geschichte, und ehe man sich's versieht, sind schon wieder einzwei Stunden vergangen. Die Theater haben Sommerpause, aber man kann den Abend jetzt zum Beispiel mit einem Besuch des Filmfestivals auf dem Rathausplatz verbringen, wo es auch mannigfaltige Verpflegungsmöglichkeiten gibt. Ohne Karten lösen zu müssen, völlig gratis, setzt man sich einfach hin, wartet auf den Einbruch der Dunkelheit und schaut sich an, was geboten wird, am letzten Dienstag zum Beispiel die Aufzeichnung von Verdis Rigoletto aus der Dresdner Semperoper, eine punkto Inszenierung (Nikolaus Lehnhoff) wie Besetzung (Juan Diego Florez, Diana Damrau, Željko Lučić) gleichermaßen begeisternde Darbietung auf höchstem Niveau. Aber ich will mich hier nicht in der Aufzählung und der Schilderung einzelner Ereignisse verlieren, sondern nur sagen: Wien ist nicht nur eine Reise wert. Auch während einem längeren Aufenthalt würde wohl niemandem, der außer am Fernsehprogramm auch noch anderweitig interessiert ist, langweilig werden. Wien ist lebenswert.


Freitag, 12. Juli 2013

Mein Fotografieren ist nicht ein Prozess der Beobachtung, sondern der Wahrnehmung. Das ist ein grundlegender Unterschied. Das eine ist zielgerichtet und voller Absicht. Das andere ist absichtslos, ein Akt des Bewusstseins im Hier und Jetzt. Das eine produziert Bilder, das andere zeigt Aufnahmen. Dachte ich früher noch, so den Moment festhalten und konservieren zu können, sehe ich heute, dass der Augenblick des Betrachtens früher gemachter Bilder wieder ein neuer Augenblick ist, ein neues Jetzt. Man betrachtet die Aufnahmen nicht mehr am Originalschauplatz zur Originalzeit, sondern in einem neuen Lebenskontext, und dadurch verändern sie sich. Sie widerspiegeln keine Wirklichkeit, sie sind selber eine, die ich beim Betrachten neu wahr-nehmen muss. Fotografie als Dokumentation, als Erinnerung, interessiert mich wenig. Wenn ich aus dem Haus gehe, um ein wenig zu spazieren und zu schauen, habe ich nicht die Absicht, Wirklichkeit zu dokumentieren. Ich nehme die unauffälligste, zuverlässigste Kamera mit, deren Bedienung mich keinen Moment vom Schauen ablenkt, vielmehr es unterstützt. Ich schaue nicht durch den Sucher oder den Finder, wie er auf englisch heißt, sondern mit den Augen. Das Bild entsteht im Inneren, ich rahme es mit dem Sucher ein, bestätige es mit dem Druck auf den Auslöseknopf und schaue weiter. Nach der Heimkehr beschäftige ich mich mit den Aufnahmen und bereite vielleicht einige davon auf. Erst, wenn sie als Prints vor mir liegen, ist der Prozess abgeschlossen und eine neue Wirklichkeit erschaffen, die mich manchmal seltsam berührt, manchmal freut, mir aber immer mehr mein Inneres zu zeigen scheint als das Äußere, durch das ich mich bei den Aufnahmen bewegt habe.

Gestern habe ich von einer Parkbank aus Touristen vor dem Johann Strauß-Denkmal zugeschaut und dabei einige Aufnahmen gemacht. Ich habe dabei fast so etwas wie Neid empfunden! Die wissen, wofür sie einen Fotoapparat mitnehmen. Die sind mit der äußeren Wirklichkeit in jedem Moment fest verbunden. Sie machen das Johann Strauß-Denkmal zu ihrem Denkmal, indem sie ihre Frau oder ihre Kinder davor stellen. Als Denkmal an sich interessiert es sie nicht. Es ist nicht für sich, sondern für sie da. Es ist ein Versatzstück auf der Bühne ihres Lebens. Die geschossenen Bilder haben so für sie sogar einen Wert, wenn sie unscharf und schlecht oder überhaupt nicht komponiert sind. Es sind ihre Bilder. Meine Aufnahmen dagegen landen schon bei kleinen technischen oder bildnerischen Mängeln im Papierkorb, und auch bei den verbleibenden ist mir zwar klar, dass, aber nicht immer, was sie mit mir zu tun haben. Genau das ist das Spannende daran.


Montag, 15. Juli 2013

Heute sind mir zwei sprachliche Sachen aufgefallen, die miteinander nichts weiter zu tun haben. Erstens habe ich endlich die Bedeutung des Wortes "Autofocus" verstanden. Es wird leider immer falsch geschrieben, denn es kommt von "out of focus", was den Sachverhalt doch sehr genau umschreibt, habe ich doch nie mehr Ausschuss bei meinen Fotografien, bei denen die Schärfe auf den falschen Bilddetails liegt, als wenn ich eine Kamera mit Outoffocus verwende.

Zweitens ist mir aufgefallen, dass es hier in Wien nicht heißt: "Wohnungen zu vermieten", wie bei uns, sondern "Wohnungen zu mieten". Das ist sozialer.

Um nicht den Platz ungenutzt zu lassen, kann ich noch berichten, dass ich heute zum zweiten Mal auf dem Riesenareal des Schlosses Schönbrunn umherflaniert bin. Dabei landete ich im Café des Marionettentheaters, wo ich der einzige Gast war. Drinnen lief gerade die Vorführung der "Zauberflöte"; der Ton wurde über Lautsprecher auch im Café eingespielt. An einem Monitor lief eine DVD mit einem Film über das Marionettentheater, die Spielerinnen, die Figurenschnitzer und Bühnenbildner. Was für Erinnerungen an meine verstorbenen Eltern, die früher im Türrahmen zwischen Stube und Wohndiele jedes Jahr ein Marionettentheater en miniature aufstellten und mit liebevoll gestalteten und kostümierten Mini-Marionettenfiguren Opern aufführten, darunter auch die Zauberflöte. So saß ich allein in diesem Lokal mit meinen Erinnerungen an solche Abende jeweils im Dezember, als mein altes Leben noch komplett war und alles mir selbstverständlich schien, und mit dieser Musik von Mozart, dem wunderbaren Duett von Papageno und Pamina "Bei Männern, welche Liebe fühlen" mit dem Text: "Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an, nichts Edlers sei, als Weib und Mann. Mann und Weib, und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an". Wie manches Mal haben Sabina und ich diese Musik vierhändig gespielt! Dann Taminos Sehnsucht nach Pamina, der schauerliche Ruf "Zurück!", der ihm entgegenschallt, als er in den Tempel eindringen will. Wie war ich froh, allein und unbeobachtet zu sein mit meinen nassen Augen und dem Kloß im Hals! Nein, ich muss nicht fürchten, meine Erinnerungen zu verlieren, solange ich mich nicht um den Schmerz herum zu drücken versuche, durch den der Zugang führt. Solange ich diesen Schmerz aushalte, bleibt die Vergangenheit gegenwärtig und lebendig. Er gehört jetzt zu meinem Leben, und ohne ihn wäre ich ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat und nicht einmal mehr seinen Namen weiß. So einem kann alles gleichgültig sein, weil nichts einen Bezug zu seinem Leben hat und sich mit seinem Selbst auch seine Gegenwart aufgelöst hat. Sein eigenes Leben hat nichts mehr mit ihm zu tun, es spielt keine Rolle, ob er lebt oder tot ist. Wie dankbar bin ich für meine Emotionen! Ich will sie pflegen und mich davor hüten, nur nach Zerstreuung und Vergnügen zu streben und mich so in eine emotionale Demenz zu befördern, in der ich mich ganz und gar verlöre.


Donnerstag, 18. Juli 2013

Die meisten Menschen gehen an den Bettlern vorbei. Es scheint, sie bemerken sie gar nicht. Sie gehören zum Straßenbild, wie die Schaufensterauslagen. Die beachtet man ja auch nicht alle. Obwohl die Bettler auch in der Schweiz immer zahlreicher werden, bin ich im Umgang mit ihnen noch nicht so routiniert wie die Wiener. Wenn ich kein Kleingeld habe, mache ich einen Bogen um sie. Manchmal wechsle ich sogar die Straßenseite. Ich beurteile ihre Glaubwürdigkeit intuitiv. Ihre Taktik ist verschieden. Je raffinierter diese ist, desto hartherziger zeige ich mich. Wird mir eine Geschichte aufzutischen versucht, die mit den Worten beginnt: "Mir ist da was ganz blödes passiert", beschleunige ich meine Schritte. Wird mir mit strahlendem Lächeln eine Rose überreicht, nehme ich diese zwar nicht an, aber wenn ich einen Euro in der Tasche habe, gebe ich diesen, für das Lächeln. Mit den angebotenen Zeitschriften mache ich das ebenso. In der Regel wird mir dann alles Gute gewünscht, Glück für die ganze Familie. Manchmal bin ich ein "guter Mann". Sitzt die Bettlerin oder der Bettler an einer belebten Straße am Boden und hält einen Pappbecher hoch, gebe ich nur, wenn das Flehen um eine milde Gabe mir nicht allzu weinerlich erscheint. Gebe ich, suche ich immer den Augenkontakt. Ich will dem Bettler zeigen, dass ich ihn als Mensch wahrnehme. Komme ich zweimal am gleichen Bettler vorbei, etwa, wenn ich einen Markt hinauf und hinunter spaziere, irritiert es mich jedes Mal, wenn der Bettler, dem ich vor fünf Minuten gegeben habe, mich offenbar nicht mehr erkennt, obwohl ich mir vorstellen kann, wie für ihn alle vorübergehenden Beine gleich aussehen. Das Rilke-Gedicht vom Panther kommt mir in den Sinn, das hier abgewandelt beginnen müsste: "Sein Blick ist vom Vorübergehn, der Beine / So müd geworden, dass er nichts mehr hält." Je schlimmer die zur Schau gestellte Behinderung oder Verstümmelung ist, desto weiter ist der Bogen, den ich mache. Habe ich all meine Münzen verteilt, gebe ich nichts mehr, sondern weiche aus. Wer mir ab diesem Zeitpunkt begegnet, hat Pech. Ich komme mir vor wie ein kleiner, ungerechter König. Seine Gnade ist willkürlich. Niemand hat ein Recht darauf. Er verteilt sie je nach Laune. Er ist niemandem etwas schuldig. Er hält sich für Gott. 

Letzthin ging ich mit meinem Fotoapparat die Fasanenstraße hoch. Weiter oben hatte ich eine vielleicht interessante Spiegelung in einer Glasfassade entdeckt. Ich steuerte darauf zu – da sah ich den Bettler. Er stand in einem Hauseingang. Trotz der Hitze war er dick eingemummt in einen zerschlissenen Mantel. Die Füße waren mit Lumpen umwickelt. Auf dem Kopf trug er etwas undefinierbares, verfilztes. Sein Jammern war von weitem zu hören. Ich blieb stehen. Die Straße schien mir zu breit und zu befahren, um sie zu überqueren ohne Fussgängerstreifen. Er hatte mich entdeckt. Sein Flehen wurde lauter. Ich studierte intensiv die gegenüberliegende Straßenseite. Schließlich drehte ich um und ging die Straße wieder hinunter. Ich war ja frei, konnte meine Pläne spontan ändern. Aber von diesem Zeitpunkt an gelang mir keine gute Aufnahme mehr. Ich hatte den Rhythmus verloren, war aus dem Kontext geraten. Durch das Vermeiden der Begegnung mit diesem Bettler hatte ich auch mich verpasst …


Dienstag, 23. Juli 2013

Weiterfahrt in vier Minuten

Ich mache es so, wie ich mir vorgenommen habe: Droht mir die Decke auf den Kopf zu fallen, gehe ich hinaus. Das habe ich auch in Neuenhof gemacht – aber vor dem Haus wusste ich oft nicht, was ich da sollte. Die meisten meiner Wege führten zum Friedhof. Gehe ich hier hinaus, bin ich in Wien, so gut wie mitten in der Stadt. Ich nehme die Bim, wie die Wiener ihre Straßenbahn nennen, die zuerst kommt, fahre also entweder Richtung Burggasse oder Richtung Reumannplatz. Weiter geht es je nachdem entweder mit der U1 oder mit der U4 ins Zentrum, Karlsplatz oder Stefansplatz. 

Gestern bin ich am Reumannplatz nicht ausgestiegen, sondern weiter gefahren bis zum Enkplatz. Dort habe ich den nächstbesten Bus bestiegen. Bei der vierten oder fünften Haltestelle dann die Durchsage: "Weiterfahrt in vier Minuten". Ich saß gegen die Fahrtrichtung und hatte so die Fahrgäste im hinteren Busteil im Auge. Ein altes Ehepaar, das vom Einkaufen kam, besetzte mit Taschen und Gehstöcken zwei gegenüberliegende Viererabteile. Der Mann nickte nach der Durchsage lange, als sei eingetroffen, was er schon lange befürchtet hatte. Dann sagte er: "Der steigt jetzt aus. Der steckt sich jetzt a Zigaretten an. Der raucht jetzt seelenruhig. Jaja." Seine Frau nickte und wiederholte seufzend: "Jaja". Der Mann schaute auf die Uhr, kniff die Augen zusammen. Ich fragte mich, wieso man so viele Greise mit wasserblauen Augen sieht. Man erwartet geradezu, dass sie helle, wasserblaue Augen haben. Jetzt lachte seine Frau: "Sog emol, wo musst denn Du no hi?" Er zwinkerte sie an und sagte vergnügt: "Host recht! Zum Sterbe werd i wohl zeitig sein!" Von jetzt an schwiegen sie vergnügt und warfen einander hin und wieder einen schalkhaften Blick zu. 

Ein jüngerer Fahrgast tat es dem Fahrer gleich, er stieg aus und nützte die Wartezeit zum Rauchen. Eine Frau ganz hinten wühlte in ihrer Einkaufstüte – Sackerl sagt man hier dazu – und las die Aufschriften auf den Verpackungen. Ein gutgekleideter Herr hieb auf die Tastatur seines Laptops ein. Eine Schülerin schrieb und empfing eine SMS nach der anderen.

Ich überlegte, ob ich jetzt meine Kamera herausholen und die gemachten Aufnahmen anschauen sollte. Ich ließ sie in der Tasche, saß einfach so da, genoss es, dass es mir völlig wurscht sein konnte, wann und sogar ob überhaupt der Bus weiterfuhr. Mir war wohl. Ein starkes Gefühl überkam mich, das Gefühl, am Leben zu sein, hier, an dieser Haltestelle, deren Namen ich nicht kannte, und jetzt, um halb Elf, nicht mehr früh und noch nicht spät, nicht mehr Morgen und noch nicht Mittag. Ich verlor jedes Zeitgefühl, hätte nicht sagen können, ob erst eine oder schon zwei der vier Minuten vergangen waren oder schon eine Ewigkeit. Das war der intensivste, dichteste Moment des Tages. Als wir weiterfuhren und der Fahrer wegen einem im Wege stehenden Auto hupte und schimpfte, kam mir alles da draußen so absurd vor!

Diese Augenblicke, wo ich mit mir und bei mir bin, nichts anderes spüre als mein Da-Sein, ohne etwas zu tun oder zu wollen, sind mir zum Wertvollsten geworden, was mein Pensionistenleben für mich bereit hält. Nur kein Aktionismus! Nur nicht getrieben Bilder für eine Ausstellung anfertigen, die vielleicht nie stattfinden wird. Nur nicht vor lauter Tun das Sein verpassen! Zum Sterbe werd i wohl zeitig sein!


Sonntag, 28. Juli 2013

eute ist Sabinas Geburtstag. Oder der Todestag von Johann Sebastian Bach. Aus beiden Gründen will ich den Gottesdienst mit Orgelmusik von Bach im Stephansdom besuchen. Schon um halb Acht mache ich mich auf den Weg, um die Fahrt noch in der kühleren Zeit hinter mich zu bringen. Heute ist Gluthitze angesagt; die Wettermoderatoren sind seit Tagen alle ganz aufgeregt, weil vielleicht ein neuer Hitzerekord aufgestellt wird. Als bekämen sie einen Preis dafür …

Wien am Sonntagmorgen – wie ausgestorben. Alle Gasthäuser noch zugeklappt. Die Stühle und Tische draußen noch gestapelt und zusammengebunden, die Sonnenschirme zu. Die wenigen Passanten – Kirchgänger oder Ankömmlinge aus Nachtzügen – werfen lange Schatten. Eine unglaubliche Stille mitten in der Stadt. Ich mache dem entsprechend einige stille Bilder, Stillleben eben, und dabei wächst in mir eine große Ruhe. Ruhig liegen die Straßen und Gassen, ruhig stehen die Häuser und Kirchen, alles Laute, Rasche, Flüchtige ist noch nicht erwacht.

Als ich vor dem Stephansdom ankomme, beginnt drinnen gerade das Schlussspiel der Frühmesse. Die "Dorische" Toccata und Fuge von Bach. Kaum sind die ersten paar Takte vorbei, kommen auch schon die ersten Leute heraus. Der Organist hat ein verzweifeltes Tempo drauf, als hätte er sich vorgenommen, den Schlussakkord zu erreichen, bevor die letzten Gottesdienstbesucher draußen sind. 

Mit meiner Ruhe ist's vorbei. Das Gehampel macht mich ganz nervös. Ich werde den Gottesdienst nicht besuchen, schlendere noch ein wenig herum, schaue dem Aufbau der Stände an einem Flohmarkt zu, wo sich die ersten Touristen einfinden. Langsam wird es lauter und heißer. Ich fahre lieber wieder zurück in meine Wohnung, wo es kühler ist und ruhig und ich an Bach und an Sabina denken kann.

 

Freitag, 2. August 2013

Gestern merkte ich erst am Abend, dass in der Schweiz Bundesfeiertag war. Das wurde beiläufig erwähnt vom Moderator in "Wien heute". So weit weg ist die Heimat schon? Das darf nicht sein, sagte ich mir, und so nahm ich es zum Anlass, mir wieder einmal die Schweizer-Tagesschau zu Gemüte zu führen. So bekam ich den Inhalt von Bundespräsident Ueli Maurers Ansprache mit. 

Die arme kleine Schweiz, das große, böse Ausland – was liegt da näher, als auf die biblische Geschichte von David gegen Goliath zurückzugreifen. Ob es angängig ist, die zentrale Figur Israels im Kampf gegen die Philister als Symbol für die Schweiz zu verwenden, oder eher ein Wunschdenken? "David" bedeutet: "Der Geliebte". Die Schweiz wird leider nicht mehr so geliebt, wie das sein sollte, nicht einmal von den Schweizern selbst. Man will ihr Böses. Man will ihre Souveränität untergraben. Man ist neidisch, und wir Schweizer müssen aufpassen, weil es bei uns "etwas zu holen gibt", sagt der Bundespräsident. Wir müssen uns also in Acht nehmen. Wir müssen uns wehren, und sei es mit Steinschleudern (die neuen Kampfjets aus dem Ausland wären da natürlich effektiver). 

Als Goliath tot am Boden lag, ging David hin, um ihm den Kopf mit seinem eigenen Schwert abzuschlagen. Die Philister wollten fliehen, als sie sahen, dass ihr stärkster Mann tot war. Aber die Männer von Israel und Juda erhoben ein Kriegsgeschrei und verfolgten und erschlugen sie. "Von Schaarajim bis nach Gat und Ekron lagen die erschlagenen Philister am Weg." Wie mit David wird Gott auch mit uns sein, denn er ist immer auf der Seite der Guten, wie die Geschichte ja lehrt. David steht für das Gute, Goliath für das Böse. Das Schweizerkreuz ist ein Symbol des Guten genauso wie der Davidsstern. David war siegreich. Später, an die Macht gekommen, zeichnete er sich in seinen Kriegen als besonders grausam aus. Saul hat tausend erschlagen, heißt es, David aber zehntausend. Aber ich habe mich verstiegen – soweit wollte der Bundespräsident den Vergleich wohl nicht strapazieren …

Heute, als ich die Nachrichten hierzulande überflog, stellte ich erleichtert fest, dass der Schweizer Bundesfeiertag nirgends Erwähnung findet. Da bin ich froh. Mir wäre das peinlich, obwohl ich ja das Schweizerkreuz nicht für alle sichtbar tragen muss, so wie die Nachfahren Davids vor nicht allzu langer Zeit den Davidsstern …

 

Mittwoch, 7. August 2013

Seit Tagen sitze ich fest. In meiner Wohnung. Draußen ist's mir zu heiß. Ich erwarte sogar hier drin stündlich einen neuen Hitzerekord: das Thermometer kratzt seit gestern an der 40-Grad-Marke, um es in der bildlichen Sprache der Wettermoderatoren auszudrücken. Ich kann nur noch die Morgenstunden draußen verbringen. Gleich nach dem Müsli muss ich los. Zuerst geht es gut, aber unaufhaltsam wird es immer lauter – ja, ich empfinde die Hitze als laut. Das Blut beginnt in den Adern zu blubbern. Im Hirn entstehen dadurch Störungen. Ich merke das an den Bildern, die mir durch den Sinn schießen, wie elektrische Entladungen. Eine Frau im Tram schaut mich an, und ich denke "Krautwickel"! An der nächsten Station steige ich aus, schlendere vorsichtig, damit meine teigigen Dampfnudel-Beine nicht nachgeben, auf der Schattenseite der Straße dahin, den Fotoapparat in der Hand. Manchmal, wahrscheinlich, wenn eine Blase im Hirn platzt, zieht sich der Arm zusammen, die Leica schlägt an meine Stirn, das Auge versucht, durch das kleine Sucherloch zu spähen, zwei Finger der linken Hand drehen an einem Ring, zwei Bilder schwimmen übereinander, und wenn sie verschmolzen sind zuckt es im Zeigefinger der rechten Hand, ein leises Klicken, eine fast unmerkliche Erschütterung, der Arm sinkt wieder, pendelt an meiner Seite neben mir her, bis sich der Vorgang wiederholt. Man nennt ihn Fotografieren. Bevor ich damit aufhören darf, muss ich noch in ein Backrohr, eine Straßenbahn, Bim genannt, aber das ist irreführend, es müsste PENG heißen, mindestens, denn da drin ist es sehr laut! Dann endlich bin ich in meiner Wohnung, wo seit zwei Wochen die Vorhänge gezogen bleiben, versuche, mir das klebrige Hemd über den Kopf zu ziehen, müsste doch eigentlich besser gehen, früher haben wir die Landjäger ja auch im Wasser eingelegt, um sie besser pellen zu können, nur waren die halt weniger klebrig. Unter der Dusche erwacht ein unerwartetes Gefühl (ob ein Wiener hier auch "unverhofft" sagen würde, wie auf der Tafel, die ich am Rolladen eines Geschäftes sah: "Wegen eines unverhofften Krankenhausaufenthaltes bleibt das Geschäft geschlossen"?). Es dauert ein wenig, bis mir dieses Gefühl deutbar wird: ich habe Hunger! Krautwickel wären jetzt fein! Oder Dampfnudeln. Aber kochen mag ich nicht. Also gehe ich Salat kaufen, fertig gerüsteten. Der Mann an der Kasse fragt, ob das alles sei. Er sieht aus wie Müsli. Daheim gieße ich Essig und Öl über die bunten Blätter und esse, bis der Teller leer ist. Hätte ich doch noch einen Landjäger gekauft! Von Loidl – "Ein gutes Stück Österreich", wie die Werbung sagt. Dann schaue ich fern, Nachrichten, erfahre von einem tragischen Badeunfall, ein alter Mann wie ich, der sich in einem See abkühlen wollte, ist im Wasser untergegangen, ich nehme an "unverhofft", konnte zwar geborgen und reanimiert werden und wurde dann ins Krankenhaus gebracht, wo aber, wie die Sprecherin sagt, "sein letzter Atemzug auch nicht verhindert werden konnte". Darüber muss ich lachen, so dass mir Salat in die Luftröhre gerät und sich jeder Atemzug als vorletzter anfühlt. Dann mache ich einen Kaffee und setze mich damit vor den Computer, um die Aufnahmen zu sichten. Lauter laute Hitzebilder. Ob sie mehr sind als Beweise für mein Alibi, wie ich den Vormittag verbracht habe? Darüber werde ich entscheiden, wenn es wieder leiser geworden sein wird … 


Dienstag, 13. August 2013

Fotografieren heißt für mich: Mit der Welt, in der ich lebe, verbunden sein. Sehen, intuitiv, also ohne den Umweg über das Denken, aber im Vertrauen darauf, dass alles, was ich je gelernt und erkannt habe über Bildaufbau und Gestaltung, einfließt und mitwirkt, ohne mich einzuschränken. Nicht Wegschauen – Anschauen, und zwar alles, nicht nur die Blumen und Wölklein! Dankbar sein, aber nicht nur für Ausgewähltes, sondern für alles, was ich wahr-nehme, das heißt: für das Wahr-Nehmen selber! Das ist Glück. Es entsteht nicht durch Ausklammern, sondern durch Einbeziehen, Einordnen, Anordnen – darum geht es mir beim Fotografieren. Dadurch wird das Gesehene zum Bild. Ein gutes Bild besteht durch seine formale Kraft. Es transportiert seine Botschaft mit Hilfe der Geometrie. Durch sie wirkt es auf den Betrachter. Für ihn lege ich aus, schneide an, richte aus, und wenn ich fertig bin, tippe ich dem Betrachter auf die Schulter und flüstere ihm ins Ohr: Schau mal! So ist meine Fotografie immer für den Betrachter bestimmt, also nach außen gerichtet – auch die introvertiertesten Bilder. Ihr Ziel ist, ein Lächeln, ein Staunen, ein Stirnrunzeln zu bewirken, im besten Fall: dem Mitmenschen einen Blick in sein eigenes Inneres zu eröffnen.


Montag, 19. August 2013

Immer noch ist es heiß, aber nicht mehr nahe bei 40 Grad (im Blog vom 7.8. habe ich irrtümlich von 30 Grad geschrieben), sondern um die 30, das ist doch schon viel erträglicher. Wenn man sich auf der Schattenseite der Straße hält, ist es gut auszuhalten – besser, als auf der Schattenseite des Lebens. „Life can be so sweet on the sunny side of the street“ – was Satchmo gesungen hat, gilt zur Zeit nicht im äußerlichen, aber immer im übertragenen Sinne.

Hier in Wien begegnet man vielen Menschen, die in diesem Sinne nicht „on the sunny side“ leben. Ich weiß nicht, ob es hier tatsächlich mehr sind als bei uns, oder ob man sie bei uns einfach konsequenter verscheucht. Ich trage immer Kleingeld lose in der Hosentasche, um das Portemonnaie nicht ziehen zu müssen, wenn ich etwas geben will. Oft gehe ich Bettlern aus dem Weg, wechsle die Straßenseite, verstecke mich hinter einer Hausecke oder Litfaßsäule. Warum? Ich traue ihnen oft nicht. Sind sie wirklich so bedürftig? Oder werde ich reingelegt? Aber auch, wenn das so wäre – zweifellos sind sie in jedem Fall bedürftiger als ich, dem die paar Euro, die sie mir eventuell aus der Tasche ziehen, nicht fehlen werden. Wenn ich allerdings jedem und jeder geben würde, die mich anbettelt, ergäbe sich monatlich ein Sümmchen, das ins Budget einbezogen werden müsste …

Am ehesten gebe ich, wenn etwas dafür geboten wird, also gesungen, gespielt, Riesenseifenblasen produziert, was auch immer. Typisch Kapitalist: bezahlt wird für Leistung. Dabei wären die, die nichts mehr leisten können, ja viel bedürftiger. Also versuche ich, auch sie zu sehen. Bei ihnen sind mir am liebsten die Stillen, die weder Plakate noch verstümmelte Glieder zur Schau stellen und einem auch keine Geschichten auftischen von Missgeschicken und Familienmitgliedern. Da gibt es richtig aufdringliche Figuren und auch solche, die einem Angst einjagen können. Letzthin habe ich von einem gelesen, der den Geber niedergestochen hat, weil er nicht mehr als 10 Euro rausgerückt hat. Solche Meldungen senken die Geberlaune. Man hört auch immer wieder, wie organisiert die Bettler seien, Banden bilden. Gut, das tun andere Organisationen auch, die mir das Geld aus der Tasche zu ziehen versuchen, wie Banken oder Versicherungen. Aber wahrscheinlich haben es deren Angestellte doch besser als die Bettler, die im Auftrag von Hintermännern unterwegs sind, von denen sie ausgebeutet werden und die groß abkassieren. Denen will ich natürlich nichts geben – bloß: wie unterscheide ich Strohmänner und -frauen von solchen, die sich auf die Straße stellen, weil sie nichts mehr zu essen haben oder ihre Miete nicht bezahlen können?

Ich weiß es nicht. Ich werde wohl weiterhin die Litfaßsäulen in Anspruch nehmen oder mit meinen zwei gesunden Beinen rasch die Straßenseite wechseln. Wenn‘s sein muss, trotz Hitze auch zur „sunny side of the street“.


Sonntag, 1. September 2013

Der Herbst naht. Früher meine Lieblingsjahreszeit, kehrt er mir in meinen späteren Lebensjahren mehr seine wehmütige Seite zu. Was lag da in den letzten Tagen näher, als mich Wiens morbider Seite zuzuwenden. Ich bin ja nicht ohne Affinität in diese Nekropole übersiedelt. So machte ich mich letzten Donnerstag also auf, zuerst in die Katakomben unter dem Stephansdom, wo neben klerikalen Würdenträgern auch die Eingeweide von Habsburgern beigesetzt sind, in schmucklosen, zylindrischen Kupferkesseln mit Deckel. Die Herzen dieser Persönlichkeiten liegen in reich verzierten Urnen in der Gruft unter der Augustinerkirche, die Körper, dank idealem Klima teils mumifiziert, in der Michaelergruft. Die Führer machen vor der Begehung auf das Fotografier-Verbot aufmerksam. Schließlich sei diese Stätte ein Friedhof. Das leuchtet mir nicht recht ein, veranstalten die Friedhöfe Wiens doch einen Fotowettbewerb. Also drücke ich doch da und dort mal verstohlen auf den Auslöser. Daheim allerdings stelle ich fest, dass die Fotos schwarz geworden sind. Selbstverständlich nicht aufgrund des Grolles höherer Mächte, sondern weil ich zuvor mit manueller Belichtungseinstellung fotografiert und danach vergessen hatte, das Rädchen wieder auf Automatik zu stellen. Trotzdem dachte ich unwillkürlich: geschieht mir schon recht …

Selbstverständlich habe ich auch die Kaisergruft unter der Kapuzinerkirche besucht, wo vor Sissis Sarg auch heute noch Blumen niedergelegt werden. Da liegen die Toten von Rang und Namen also ohne ihre Herzen und Eingeweide in kunstvollen Sarkophagen, im Gegensatz zu denen in der Michaelergruft, die in Holzsärgen liegen. Je näher dieser beim Hauptaltar in der Kirche darüber liegt, desto teurer war der Platz …

Am Freitag besuchte ich den weltweit einzigen noch erhaltenen Biedermeierfriedhof, den St. Marxer Friedhof, der heute ein öffentlich zugänglicher Park ist, wo nicht mehr bestattet wird. Zerfall auf Schritt und Tritt. Die Grabsteine zum Teil bis zur Unleserlichkeit verwittert, umgestürzt, zerfressen. Gepflegter natürlich die Grabstätten der berühmteren Toten, wie jene Mozarts, der zwar kaum genau an dieser Stelle liegt, ebenso wie Josef Madersberger, über dessen vermutetem Massengrabplatz die dankbare Schneiderinnung dem Erfinder der Nähmaschine ein gusseisernes Kreuz errichtete und für die Blumenbepflanzung sorgt. Besonders berührt stand ich am Grab von Johann Georg Albrechtsberger, dessen Orgelwerke für Sabina und mich zum festen Bestandteil unseres kirchlichen Repertoires gehörten.

Am Samstag dann, während 24000 Besucher sich in der Innenstadt an der Streetparade drängten, zog es mich wieder einmal zum Zentralfriedhof. Ich spaziere gerne durch Friedhöfe, weil ich mich da "meinen" Toten nahe fühle, den Menschen, die, wie man sagt, mir gestorben sind. Merkwürdige Formulierung! Ich hoffe doch sehr, dass sie nicht "mir" gestorben sind! Wie auch immer, ich fühle mich ihnen hier näher, näher an diesem "dort", das in Lortzings Lied nicht näher bezeichnet wird, das ich vor mich hinsummte, das Lied aus Undine: "Vater, Mutter, Schwestern, Brüder, hab ich auf der Welt nicht mehr." Die letzte Strophe trieb mir unwillkürlich die Tränen in die Augen:

"Hab schon öfter sagen hören
dass man dort sich wiedersieht,
aber niemand kann's beschwören,
keiner weiß, was dort geschieht.
Wenn es fest und sicher stände,
dass man dort sich wiederfände,
wär in jenen lichten Höh’n
wohl das schönste Wiedersehn."

Da war's um mich geschehn. Zufällig gelangte ich jetzt gerade ans Grab von Brahms, und meine Erschütterung war so groß, als erführe ich genau jetzt zum ersten Male, dass die Menschen sterben müssen. Schwersinnig ließ ich mich treiben und gelangte so zu den Abteilungen mit den Soldatengräbern. In unabsehbaren Reihen stehen hier zu tausenden die Steinkreuze für die Gefallenen des zweiten Weltkrieges. Was für ein unverdientes Schicksal, und was für ein ebenso unverdientes Glück, sein Leben in einer Zeit und einem Land ohne Krieg fristen zu dürfen! Das mahnte mich, besser dankbar als schwermütig zu sein. Und den Humor nicht zu vergessen, der für das Verhältnis der Wiener zum Tod kennzeichnend ist und der einem hier auf dem Zentralfriedhof auch überall begegnet. Zum Beispiel im Spruch der Burgschauspielerin Judith Holzmeister (1920–2008), den man für ihre Grabinschrift verwendete: „Ich lebe so gerne! Ich glaube, ich lebe sogar noch gerne, wenn ich einmal gestorben bin.“

 

Donnerstag, 12. September 2013

September

Du warst mein größtes Glück,
Dein Tod die größte Wunde.
In Deiner Sterbestunde
Entwich mit Dir mein Glück.

Warst meine große Liebe!
Mit Dir ist sie entschwunden.
Mir fehlt in dunklen Stunden
Dein Da-Sein, Deine Liebe.

Du warst mir meine Welt.
Mit Dir ging sie mir unter.
Ich blieb zurück in bunter
Und fremdgewordner Welt.

Dein Leben war ein Dank.
Wie groß auch die Misere –
Nahmst alles an. So lehre
Auch meinem Herzen Dank!


Dienstag, 17. September 2013

Ein Heimweg.

Letzten Sonntag, nach dem fröhlichen Brunch mit Tochter Katja und Eidam Eric im Café Hummel an der Josefstädter-Straße, beschloss ich, zu Fuß nach Hause in den 10. Bezirk zurück zu gehen. Die Temperatur war angenehm, der Himmel bedeckt, "neutrales" Wetter, wie ich das nenne. Ich marschierte los, einfach immer Richtung Süden, hielt immer generell diese Himmelsrichtung ein und wählte dafür wenn immer möglich Straßen, die mir noch unbekannt waren und meistens fast unbelebt. An einem solchen Sonntag bleiben die meisten Leute offenbar zu Hause. Und Touristen sind so fern aller offiziellen Sehenswürdigkeiten nur anzutreffen, wenn sie sich verirrt haben. Wie gewohnt hing meine Kamera vor meinem Bauch und pendelte im Rhythmus meiner Schritte. Weitab der großen Sehenswürdigkeiten wurde mein Blick auf Kleines und Kleinstes gelenkt. Ich kam dabei in eine schwer zu beschreibende Stimmung. Kontemplation, Resümee, Herbst, Endlichkeit, Stille – das wären vielleicht die treffenden Stichworte. Ich überließ mich der Melancholie, die mich immer mehr erfüllte und ließ meine Augen gewähren, wie Kinder, denen man erlaubt, sich frei zu bewegen während dem Familien-Sonntagsspaziergang, solange sie nur brav auf dem Bürgersteig bleiben und sich nicht zu weit entfernen. Das taten sie nicht, im Gegenteil, sie waren manchmal von ebenso Nahem wie Unscheinbarem fast nicht mehr loszureißen. Immer wieder musste ich sie zum Weitergehen drängen, da ich fürchtete, sonst nicht mehr vor dem aufziehenden Regen nach Hause zu kommen. Endlich doch noch angekommen betrachtete ich die gemachten Bilder, was meine Stimmung noch mehr ins Wehmütige kippen ließ. Welch merkwürdige Sehenswürdigkeiten hatte ich da gesammelt! Aber gleichzeitig erfüllte mich auch eine eigenartige Zufriedenheit beim Betrachten dieser Fotos. Unwillkürlich musste ich denken, dass es keineswegs schlimm wäre, wenn ich jetzt die Augen für immer schließen würde und diese Bilder das Letzte gewesen wären, was ich in meinem Leben sah. Es war die Übereinstimmung des Inneren mit dem Äußeren, die alles so richtig erscheinen ließ. Die Deckungsgleichheit der Innen- mit der Außenwelt im Augenblick, wenn der Finger den Auslöser drückt. Die Gültigkeit der so entstandenen Bilder. Ausblicke, die auch Einblicke sind, in mein Inneres. Meine eigenen Sehens-Würdigkeiten. So setzte ich mich, müde vom langen Spaziergang, in meinen Lehnstuhl, schloss die Augen und überließ mich zufrieden und froh der Traurigkeit.


Donnerstag, 26. September 2013

Herbstbeginn.

Was die Seele sei?
Das,
was mir schwer wird
im Frühherbst,
wenn Fehlfarben
Bäume befallen.

Das,
was untergeht
in scheinheiligem
Abendrot.

Das,
was die Stürme anfleht:
Nehmt mich mit!


Freitag, 27. September 2013

Das "Herbstbeginn"-Gedicht hat einige Leserinnen in Besorgnis um meinen Gemütszustand gestürzt. Ich kann sie beruhigen: Seit ich mir eingestehe, den Herbst nicht mehr sonderlich zu mögen, ertrage ich ihn besser. Früher, als ich jung war oder mich zumindest noch so fühlte, war der Herbst meine Lieblingsjahreszeit. Es ist etwas anderes, mit Untergang und Vergänglichkeit zu kokettieren, wenn man Freund Hein noch lange nicht vor der Türe vermutet. Als Zwanzigjähriger in den langen Mantel gehüllt durch herbstliche Alleen zu schlendern, am besten bei Nieselregen und Nebel, sich düsteren Gedanken über die Vanitas hingebend – das hat schon was! Der Schmerz über die Endlichkeit des Lebens schmeckt eigenartig süß, wenn man statistisch hoffen darf, es noch vor sich zu haben. Heute schmeckt er mir abgestanden und schal, mit leichtem Hang ins Bittere. Dass ich sterben muss, das weiß ich schon lange, und es ist mir durch den Tod so vieler lieber Menschen in den letzten Jahren noch bewusster geworden. Ich möchte nicht jeden Tag daran erinnert werden, so wie das der Herbst tut, und das sowohl mit seinen goldenen als auch seinen düsteren Tagen. Mir kam schon der Verdacht, dass man sich mit zunehmendem Alter manchmal nach dem Tode sehnt, weil man die Gewissheit des Todes immer weniger erträgt. Der Tod als Erlöser von der Angst vor dem Tod. Ein verstörender Gedanke. Darum liebe ich – als Herbstgeborener – den Frühling heute mehr als früher den Herbst, weil er zeigt, dass Leben nicht nur Vergänglichkeit ist, sondern immer wieder Erneuerung. Je älter ich werde, desto tröstlicher wird mir diese Einsicht.

Das Wetter verspricht heute freundlich zu werden. Ich werde bald zu einem Ausflug in die Steinhofgründe aufbrechen, sobald der Akku meiner Kamera geladen ist. Dort, inmitten einer grünen Oase, sind das Otto Wagner Spital und die Kirche am Steinhof zu bewundern, zwei Juwelen der Architektur des Jugendstils, der mir so gut zum Herbst zu passen scheint – vielleicht, weil er mit der Zeit vor dem großen Untergang verbunden ist.

 

Samstag, 5. Oktober 2013

Die Sprache der Bilder

Man hört immer wieder sagen, dass Bilder eine Geschichte erzählen. Dass sie mehr sagen als tausend Worte. Andrerseits sagt man auch, dass das, was mit Worten gesagt wurde, Bilder seien, das heißt: nicht so wörtlich gemeint, sondern im übertragenen Sinne, wie zum Beispiel viele Gleichnisse, Wunderberichte und anderes Unglaubliches in der Bibel. "Nur" Bilder, heißt es dann. Eine bildliche Sprache. Metaphern – das kann ich noch gelten lassen. Dass aber Bilder Geschichten erzählen sollen? Bilder erzählen gar nichts. Sie SIND. Die Geschichten muss sich der Betrachter schon selber erzählen. Das Bild ist nur der Auslöser. Es ist durchaus möglich, dass ein und dasselbe Bild in verschiedenen Betrachterinnen verschiedene Geschichten hervorruft. Es ist eben nicht die Geschichte, die das Bild erzählt, sondern die Geschichte, die sich die Betrachterin über das Bild oder wegen dem Bild erzählt. Wobei "Geschichte" ein viel zu weiter Begriff ist. Oft sind es eher Assoziationen, oder Erinnerungen. Die Sprache der Bilder – das kann ich nicht gelten lassen. Bilder sprechen eben keine Sprache. Sie stehen über der Sprache. Verstehe ich ein Bild nicht, liegt der Grund niemals darin, dass ich der Muttersprache des Malers nicht mächtig bin; ich weiß vielleicht zu wenig über die Entstehungsgeschichte des Bildes, über die Lebenssituation des Malers zur Zeit, als er das Bild malte. Aber sein Bild muss weder spanisch noch französisch, weder italienisch noch holländisch oder deutsch sprechen, um mich oder meine Nachbarin im Museum anzusprechen. Es ist eben ein Bild, und das, was mich daran berührt oder stört, erzähle ich mir selber, in meiner Sprache. Und vielleicht – ich möchte sagen: bestenfalls! – ist das nicht einmal notwendig, vielleicht kann ich das Bild auch verstehen, ohne es in Sprache zu übersetzen, unmittelbar. So verstanden, als Bild, ist es womöglich weniger missverständlich, als wenn es in Worten be- und umschrieben würde.

Zur Zeit habe ich ein metaphysisches Lese-Erlebnis: Hermann Hesse, Klein und Wagner, und zwar ein Exemplar, das Sabina gehörte. In ihrer genauen und sorgfältigen Art hat sie es mit Randnotizen versehen und besonders wichtige Stellen mit grüner Farbe angestrichen. Es ist, als habe sie das für mich getan. Alles Grüne betrifft mich unmittelbar, hat mit mir zu tun, mit meinem Leben hier und heute, mein Bilderleben, Bild-Erleben:

"Er riß die Augen auf und sah: Bäume an einer Straße, Silberflocken im See, ein rennender Hund, Radfahrer – und alles war sonderbar, märchenhaft und beinahe allzu schön, alles wie nagelneu aus Gottes Spielzeugschachtel genommen, alles nur für ihn da, für Friedrich Klein, und er selbst nur dazu da, diesen Strom von Wunder und Schmerz und Freude durch sich hinzucken zu fühlen. Überall war Schönheit, in jedem Dreckhaufen am Weg, überall war tiefes Leiden, überall war Gott."

Klein fühlt sich dem Wahnsinn nahe und begreift, "warum im Glauben edler Völker der Wahnsinn für heilig galt. Er begriff alles, alles sprach zu ihm, alles war ihm erschlossen. Es gab keine Worte dafür, es war falsch und hoffnungslos, irgend etwas in Worten ausdenken und verstehen zu wollen! Man mußte nur offenstehen, nur bereit sein: dann konnte jedes Ding, dann konnte in unendlichem Zug wie in eine Arche Noahs die ganze Welt in einen hineingehen, und man besaß sie, verstand sie und war eins mit ihr."

 

Samstag, 12. Oktober 2013

Goethe, Zitat aus "Ein Wort für junge Dichter":

"Ihr seid nicht gefördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts wert, und wenn ihr noch soviel Geschick und Talent dabei aufopfert.

Man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe sich bei Gelegenheiten; denn da beweist sich's im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren."

Nun, ich bin kein Dichter. Nur hie und da ein Schreiber von Gedichten. Und jung schon gar nicht mehr. Trotzdem beschäftigt mich das Wort des Überdichters Goethe. Man soll also leben, solange man am Leben ist. Genau genommen bleibt nichts anderes übrig. Welch überraschende späte Einsicht! Doch besser spät als nie. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, was "Leben" heißt. "Lebendig", darunter versteht Goethe bestimmt mehr als essen, verdauen, ausscheiden, schlafen, in der Nase bohren. Ich ja auch. Nur fällt es mir manchmal halt schwer, mich loszureißen von der Traurigkeit, Müdigkeit, Stumpfheit, Resignation. Da bin ich schon auf einer Parkbank gesessen, in die Sonne blinzelnd, und habe gedacht: ich sollte doch leben! Und gleichzeitig dachte ich: ich lebe doch! Das ist doch leben, hier auf dieser Parkbank. Auch zuhause, im Schaukelstuhl dösend, das der Hand entglittene Buch mit zerdrückten Seiten sozusagen auf dem Gesicht am Boden liegend, bewusstloses Leben, schlummern, schlafen – nur Lebende schlafen. Tote nicht. Das sagt man nur so. Wie so vieles nur so gesagt wird. Meine Besuche bei meinem alten Vater kommen mir in den Sinn. In seiner letzten Zeit schlief er nur noch. Sah dabei aus wie ein Toter. Aber er atmete noch. Atmen als Zeichen des Lebens. Hesses Begreifen des Lebens und Sterbens als aus- und eingeatmet werden von Gott. Goethes Gedicht von den zweierlei Gnaden im Atemholen. Dies alles bedenkend fühle ich mich auch lebendig, wenn ich nur auf der Parkbank oder im Schaukelstuhl sitze, blinzle, döse, in Traumbildern herumschwimme. Aber auch in der Trauer, ja, besonders sogar in der Trauer fühle ich mich lebendig. Nur Lebende verspüren Schmerz. Darin gerade erweist sich auch das Lebendig-Sein. Natürlich weiß ich, dass mir Kleingeist Kritik an Goethe nicht zusteht. Trotzdem steht das Zitat oben für mich im Widerspruch zum Satz, den Goethe gleich davor schrieb:

"… fragt euch nur bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte und ob dies Erlebte euch gefördert habe."

Drum setze ich trotzig ein letzthin entstandenes Gedicht an den Schluss des heutigen Eintrages, obwohl es wieder einmal um die Trauer geht. Aber um ein Erlebtes! Immerfort, fortschreitend, intensiv und lebendig.

"Ewig verlor'nes Lieb".

Töricht,
weil unerfüllbar, –
ich weiß das sehr genau! –
ist diese Sehnsucht.
Doch dieser ist das scheißegal.
Uneinsichtig wütet sie weiter,
will das Herz mir sprengen,
läuft Amok,
rennt alles nieder
was die Vernunft ihr in den Weg stellt.
Feige Vernunft!
Gibt einfach auf.
Zieht sich zurück.
Liest lieber so'n Buch
über Trauerarbeit …


Mittwoch, 23. Oktober 2013

Nach einer Woche Aufenthalt in München bin ich wieder nach Wien zurückgekehrt und versuche, den Unterschied dieser beiden gleichermaßen faszinierenden und doch so verschiedenen Städte zu erfassen. Dabei ist mir bewusst, dass meine Aussagen nicht objektiv sein können – ich will hier aber unerörtert lassen, ob es Objektivität überhaupt gebe, stelle nur fest, dass meine Beschreibung wohl eher meine Befindlichkeit als eine wie auch immer geartete "Wirklichkeit" spiegelt. Nach nur einer Woche kann niemand behaupten, eine Stadt zu kennen, auch wenn er sich im U-Bahn-Netz schon ein wenig zurechtfindet und weiß, was und wo die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind. Wie hier in Wien beobachtete ich auch in München die Touristen in ihrem Bemühen, sich ein Bild von der Stadt zu machen. Besonders die Asiaten zeichnen sich dabei durch eine große Emsigkeit aus. Sie marschieren schnurstracks in eine Kirche hinein, bleiben unmittelbar nach dem Eintreten stehen, reißen die Kamera hoch und drücken ein paar Mal ab, bevor sie auch nur einen Moment geschaut haben. Dann geht es zielstrebig weiter zum bedeutenden Hochaltar oder der bedeutenden Kanzel, knips-knips, am liebsten mit Angehörigen davor, und dann hinunter in die Gruft oder hinauf auf den Turm. Fünf Minuten später geht es im Stechschritt wieder hinaus und weiter zum nächsten "Must" der Stadtbesichtigung. Die meisten verhalten sich so, unbesehen, ob sie sich für ihre Fotos nur eines Smartphones bedienen oder sich schwerbeladen mit Spiegelreflexkamera und Stativ von Ort zu Ort schleppen. Besonders herzig finde ich immer diejenigen, die nicht wissen, wo man den Blitz ihrer Kleinstkamera ausschaltet, und darum draußen bei hellem Sonnenschein an den 98 Meter hohen Türmen der Frauenkirche hinauf blitzen …

Ich habe ganze Listen von Adjektiven für München und Wien erstellt, von denen ich nur ein paar wenige zitiere:

München: aufgeräumt, gradlinig, säuberlich, klar, ernst, bodenständig …

Wien: verspielt, ungenau, geräumig, großspurig, detailliert, verträumt …

Anfänglich erschien mir München ungemütlicher als Wien. Das wird am Wetter gelegen haben. Wenn man bei Regen und Wind durch die Stadt geht, ausgerechnet noch an dem Tag, wo die Stadtgärtner die großen Pflanzentöpfe zum Überwintern einsammeln, ergibt sich ein ganz anderes Bild als zwei Tage später, wo die Wirtshausgäste an der fast heißen Herbstsonne draußen beim Bier sitzen. Dann ist es auch in München recht gemütlich. Wenn man nach einem Besuch einer Pinakothek wieder in ein Hudelwetter hinaustritt, tut das der gehobenen Stimmung keinen Abbruch. Die Welt ist so, wie wir sie sehen, kühl oder gemütlich, es liegt bei uns.

Das Fotografieren fiel mir in München schwerer als in Wien, wo die Bilder nur so auf mich einstürzen. Münchens Äußeres wollte sich zeitweise durchaus nicht mit meinem Inneren decken, so dass ich eine ganze Reihe ziemlich dummer Touristenfotos gemacht habe, die mir beim Sichten ein Dauerkopfschütteln bescherten. Gut möglich, wenn auch nicht beabsichtigt, dass die verbliebenen Aufnahmen bei den Betrachtern den gleichen Effekt haben …

Abschließend mögen vier ganz kleine Gedichtlein ein kleines Lichtlein auf meine Stimmungen während meiner Münchner-Reise werfen.

Fremd hier.

Im Museum
hunderte von Bildern
aus fremden Jahrhunderten angeschaut.
Märtyrer und Propheten und
Marienleben,
bis ich ganz leer 
und begeistert war.

Ich setzte mich
ins Stehcafé
und warteté
weiß nicht auf wen
oder was.

Zwei Fragen:

Ob alles ist,
wonach es aussieht?
Und: wonach
sieht's denn aus?

Kleine Lautsprecher
verdunsten alte Schlager.
Ein Zimmerbrunnen
brunzt hemmungslos.
Ich lass den Kaffee erkalten,
um mich aufzuhalten.


Donnerstag, 21. November 2013

Nach fast einem Monat komme ich zum ersten Mal wieder dazu, einen Blogeintrag zu schreiben. Der Grund dafür ist weniger der Unruhestand als meine Übersiedelung in ein Hotel, weil in meiner Wohnung wegen dem Wasserschaden, der im Sommer entstanden ist, Trocknungsgeräte aufgestellt wurden, die 14 Tage lang ununterbrochen laufen mussten, ein Heidenlärm, ich hörte kein Telefon, kein Klopfen an die Tür, Musik hören oder Fernsehen war unmöglich, an Schlaf nicht zu denken. So bin ich geflüchtet, in ein Hotel in Fußdistanz, gleich beim neu entstehenden Hauptbahnhof. Da entstehen in unglaublichem Tempo auch zwei neue Quartiere, das Sonnwendviertel und das Belvedere-Quartier, das ist sehr faszinierend, dem Schweizerknaben bleibt da einfach der Mund offenstehen.

Die Zeit im Hotel habe ich genützt, um einen schon lange geplanten Roman zu schreiben, der jetzt soweit fertig ist, dass ich das verraten darf, weil die Gefahr, dass es ein ewiges Projekt bleibt, nun gebannt ist. Der dichterische Teil der Arbeit ist abgeschlossen, jetzt folgt notwendigerweise der denkerische, damit hab ich‘s nicht so, aber es muss halt sein. Wenigstens ist so für die kalte Jahreszeit, wo ein alternder Fotograf mit ebensolchen Knochen nicht mehr tagelang unterwegs sein möchte, für ausreichend Beschäftigung in der warmen Stube gesorgt, die jetzt wieder bewohnbar ist. Der Wasserschaden ist zwei Stockwerke über mir entstanden, das Wasser ist vor allem in die Wohnung über mir eingedrungen, bei mir hat‘s nur einen Fleck an der Decke gegeben. Zuerst hat es so ausgesehen, dass man das von oben her austrocknen könnte, dann hat man doch auch von unten her ein paar Löcher in meine Küchendecke gebohrt und mit Schläuchen warme Luft hinaufgeblasen. Jeden Tag habe ich den Wasserbehälter der Trocknungsmaschine entleeren müssen, und ich habe nicht schlecht gestaunt, welche Menge Wasser so abgeführt wurde. Jetzt sind die Maschinen weg, nächste Woche werden die Löcher wieder zugemacht und die Küche neu gestrichen, und dann ist es überstanden, so dass ich endlich wieder mehr Zeit für die weniger praktischen und viel wichtigeren Dinge des Lebens habe.


Donnerstag, 12. Dezember 2013

Kleine Rückschau

Heute habe ich Hausarrest, die neuen Klingel- und Gegensprechanlagen werden montiert, da weiß man nicht, wann die eigene Wohnung an die Reihe kommt. Fast acht Monate habe ich jetzt ohne Türklingel gelebt. Fazit: es geht auch ohne! Ist sogar persönlicher: Einige Leute kenne ich schon am Klopfen. Wenn sie künftig klingeln, werde ich halt wieder durch den Türspion schauen, bevor ich öffne …

Der Hausarrest ist mir willkommen, ich darf zu Hause bleiben, lesen, Tee trinken, ein klein wenig Rückschau halten. Seit Anfangs Mai wohne ich in Wien. Ich habe meine Übersiedelung noch keinen Moment bereut. Dabei ist es nicht so, dass ich hier ein »neues Leben« angefangen hätte, wie man landläufig sagt. Ich habe mein altes Leben mitgenommen, meine Erinnerungen, Illusionen, Ängste, diesen ganzen Riesensack, der mit den Jahren immer größer wird – eine verkehrte Einrichtung: die Kräfte nehmen ab, der Sack wird schwerer. Wenn ich mir am Morgen im Spiegel begegne, erkenne ich mich durchaus noch. Nie habe ich dabei gedacht: Schau da, ein ganz neuer Peter, mit einem ganz neuen Leben! Ich habe nur die Bühne gewechselt; das Stück ist das gleiche geblieben. Die neue große Bühne eröffnet natürlich viel mehr Möglichkeiten! Nur schon die Beleuchtung – da erscheint alles in einem andern, neuen Licht. Man bespielt einen viel größeren Raum, in Breite, Tiefe und Höhe, das ist nicht mehr wie auf der kleinen Bühne, die mit ein paar Requisiten und der Hauptfigur schon voll wirkte und die acht Schritte um das Sofa herum schon nach turbulenter Action aussahen. Hier erscheint die Hauptfigur – das bin immer noch ich – viel kleiner und erlebt sich in viel größeren Zusammenhängen. Um das bereits überstrapazierte Bild zu verlassen: es dreht sich hier nicht mehr alles um mich, um meinen Schmerz, meine Geschichte. Das scheint hier alles nicht mehr so wichtig. Hier gibt es so viel anderes zu sehen, entdecken, erobern, das tut gut, nicht weil es ablenkt, sondern weil es das Verhältnis von Ich und Welt wieder etwas zurechtrückt.

Äußeren Ballast habe ich allerdings abgeworfen, radikal. Der wenige Stauraum, den ich in meiner Wohnung habe, ist nicht einmal ausgenutzt. Das Schönste sind die leeren Wände. Hohe weiße leere Wände. Kein einziges Bild. In meiner Wohnung in Neuenhof hingen über dreißig Bilder, klein- und großformatige. Das waren meine Fenster in die Welt hinaus, in die Welt jenseits des Verkehrskreisels vor meinem Stubenfenster, die Welt hinter den paar Bäumen vor dem Küchenfenster. Hier erübrigen sich Bilder. Da draußen ist Wien, von dem ich zwar nur einen kleinen Ausschnitt sehe, die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Karmarschgasse. Das belustigt mich immer so, diese Zusammenziehung von Karma und Arsch. Wäre ich Buddhist, gäbe mir das wahrscheinlich schon zu denken. Karma, das ist ja Ursache und Wirkung – wer die Schweiz verlässt braucht sich nicht wundern, wenn er nachher am Arsch ist. Verzeihung, ich konnt’s nicht lassen. Nur soviel noch dazu: ich fühle mich hier nicht am Arsch, womit ich das Wort jetzt dreimal gebraucht und damit eine meiner selbstauferlegten ästhetischen Regeln befriedigt habe. Also wie gesagt: Vor dem Fenster zwar nur Karmarsch, aber ich brauche ja bloß hinauszugehen vor die Haustür und bin in Wien. Und das ist, schlicht zusammengefasst, schön. Das bleibt es auch, wenn ich nicht hinausgehen kann, weil ich gerade Hausarrest habe. Wien wird – voraussichtlich – auch morgen noch da draußen sein.

Um alles wieder gut zu machen bleibt nachzutragen: Karl Karmarsch, nach dem die Gasse vor meinem Fenster benannt ist, lebte von 1803 bis 1879. Er war der Sohn eines Wiener Schneidermeisters, das zweite von zwölf Kindern, studierte am Polytechnischen Institut in Wien und war später Direktor der Polytechnischen Schule in Hannover. Ich entschuldige mich in aller Form für das Schindluder, das ich mit seinem Namen getrieben habe!


Samstag, 21. Dezember 2013

Wien ist übersät mit Weihnachtsmärkten, großen und kleinen, überall trifft man die schmucken Holzhütten an, schön einheitlich, schöne Beleuchtungen, schöne Auslagen, bei den größeren Märkten wie z. B. am Rathausplatz auch die umstehenden Bäume als Weihnachtsschmuckträger einbezogen, da hängen beleuchtete Schneemänner, Herzen, sogar Gitarren, und an den Wochenenden trampeln sich die Besucher auf den Füßen herum, wenn auch die Touristen noch da sind. Für die Wiener sind die Märkte ein Treffpunkt, man geht abends auf einen Punsch oder einen Glühwein hin, und auch gegen den Hunger lassen sich da mannigfaltige Maßnahmen ergreifen, von den Würsteln und Brezen über die Bratkartoffeln und Marroni bis zu den Zuckeräpfeln, Schokobananen, kandierten Früchten und Lebkuchen; die Schüler hängen hier nach Schulschluss ab und essen und albern herum. Die Stimmung ist einmalig, fröhlich, schön besonders nach dem frühen Einzug der Dunkelheit, wenn all die Lichter zur Wirkung kommen, die Sterne mit und ohne Schweif, Tannenbäume, Rentierschlitten, Engel.

Aber da werden auch mahnende Stimmen laut! Auf den Weihnachtsmärkten lauern Gefahren für Leib und Leben! Gerade der Punsch, der so beliebte, ist nur mit Vorsicht zu genießen. Da wird in den Vorabendsendungen eingehend aufgeklärt: Man weiß nämlich nicht, was drin ist! Es gibt keine Deklarationspflicht! Man hat also keine Ahnung, was für einen Alkohol man da zu sich nimmt, und eben so wenig weiß man, wieviel Zucker da auf den Organismus losgelassen wird! Die Leckereien rufen besorgte Ernährungsberaterinnen auf den Plan, die von Fernsehteams vor Ort interviewt werden und hilfreiche Hinweise geben, wie man das Ärgste vermeiden, die schlimmsten Kalorienfallen umgehen kann. Labors liefern Beweise, die auch die sorglosesten Marktbesucher überzeugen dürften.

Weihnachten soll gesund sein! Da geht man nicht einfach hin und freut sich naiv! 

Ich bin so froh, dass ich aufgeklärt wurde! Leider zu spät! Bei meinem ersten Besuch wusste ich noch nicht, wie heimtückisch diese Punschverkäufer sind, die es nur auf die Untergrabung der Gesundheit ihrer Kunden abgesehen haben. Prompt habe ich mich, durchfroren vom Fotografieren, mit so einem Punsch aufgewärmt. Akutes Magenbrennen war die Folge. Über die Spätfolgen dieses Fehltrittes kann ich noch nichts berichten, bin aber mittlerweile wenigstens auf Schlimmes gefasst! Schade – es war so hübsch da, und jetzt sitzt mir die Angst im Nacken! O du fröhliche!

Je nun! Passiert ist passiert. Wenigstens aufgewärmt hat mich der Punsch. Nächstes Jahr werde ich den Ernährungsberater aufsuchen, bevor ich mich unbedarft auf einen Weihnachtsmarkt begebe. Damit ich mich dann unbeschwert und im frohen Bewusstsein, alles richtig zu machen, der Weihnachtsfreude hingeben kann!

Frohe Festtage allerseits!

 

Dienstag, 31. Dezember 2013

Ob Vorsatz oder nicht.

Neujahr! Prosit! Hurra!
Was ist neu am Jahr?
Neue Zeit? Oder nur
Fortsetzung der alten?
Feststeht:
Zeit wird weiter
weniger. Nimmt ab
ganz ohne Vorsatz,
nicht wie wir.
Unsre Hoffnung liegt
in schwindender Zukunft,
wir nehmen vielleicht
ab an Gewicht –
an Leben gewiss.

Neujahr! Prosit! Hurra!
Alles von vorn,
das alte Spiel
im neuen Jahr. Auch das
wird alt. Wie wir. 
Am Ende
beginnt das Zählen neu,
von vorn, beim Jahr –
bei uns zählt’s weiter.
immer weiter.
Noch wie lang?

Neujahr! Prosit! Hurra!
Verschreiben uns
im Januar
bis gewohnt die
neue Zahl, überall,
auf Brief und Formular,
Grabstein und
Einmachglas.
Im neuen Jahr
gilt überall
die neue Zahl!

Neujahr! Prosit! Hurra!
Noch einmal Feuerwerk!
Wie manchmal noch
der alte Abzählreim?
Gießet Blei!
Stoßet an!
Lasst’s krachen!
Neues Jahr!
Keiner will das alte
noch einmal.
Geht ja nicht,
ob leider oder gottseidank.
Das Abnehmen geht weiter,
ob Vorsatz oder nicht.


Sonntag, 5. Januar 2014

Erinnerung an einen Frühling

Sonnenstrahlen,
rollladengesiebt.
Lichtstreifen, geknickt 
über Kissen und Stuhl.
Ich, blinzelnd
ins Licht und Glück.
Erinnerung ans Glücken
eines Augenblicks.
Unwiederbringlich.
Hoffnung 
auf Wiederkehr
von Licht und Glück
besteht, solange
der Rolladen,
wenigstens spaltweis,
strahlweit offenbleibt.


Montag, 6. Januar 2014

Aus der Zeit gefallen

In einem Artikel in den »Salzburger Nachrichten« über Richard Strauss lese ich, er habe 1948 mit den »Vier letzten Liedern« sein musikalisches Testament verfasst, »galt er damals doch schon als aus der Zeit gefallen.«

Damals doch schon! Das heißt also, heute immer noch. Gemeint ist der Künstler Strauss; der Mensch Strauss blieb bis 1949 noch in der Zeit, obwohl er auf die Frage nach seinen Zukunftsplänen nur noch antwortete: »Na, sterben halt.« Hätte er nicht den Beruf des Künstlers ergriffen, sondern zum Beispiel den des Musikkritikers, wäre er nicht bei lebendigem Leib aus der Zeit gefallen. Mit einem bürgerlichen Beruf hätte die Zeit ihn gleich seinen Abermillionen Zeitgenossen erst zum Zeitpunkt des Todes verschlungen, verdaut, ausgeschieden. So fallen wir ja alle einmal aus der Zeit. Künstlern droht dieses Schicksal jedoch schon zu Lebzeiten. Künstler fallen aus der Zeit auf Grund unzeitgemäßer Werke. Wieder hinein kommen sie schwerlich. Auch nach 75 Jahren haftet den Werken von Strauss der Makel des Unzeitgemäßen noch an und verdirbt aufgeklärten zeitgemäßen Zeitgenossen den Genuss.

Für Strauss begann mit dem »Rosenkavalier« der Fall aus der Zeit. Zahlreiche Kritiker, lese ich, haben ihm damals, 1911, »reaktionäre Walzerseligkeit« vorgeworfen. Er hätte Walzer besser nur getanzt. Bis heute muss kein Teilnehmer des Wiener Opernballs befürchten, als reaktionär zu gelten. Strauss Fehler war es, zu komponieren. Damit hat er seinen Fall aus der Zeit selber verschuldet. Doch unverbesserliche Bewunderer seiner Kunst wie ich bleiben nicht ohne Trost: Ich lese, dass seine »legendären Tondichtungen (…) wie ›Also sprach Zarathustra‹ nicht zuletzt in Hollywood (etwa in Stanley Kubricks ›2001‹) reüssierten.« 

Schwein gehabt!

 

Sonntag, 12. Januar 2014

Komapatient verliert Kampf gegen den Tod.

So die Überschrift in FOCUS-online zur Meldung über den Tod Ariel Scharons. Wie wir von einem Freund des Verstorbenen erfahren, war es gleichzeitig sein letzter Kampf, den er verloren hat.

Welch tragische Niederlage! Wenigstens schämen braucht sich der Unterlegene nicht! Ich weiß zuverlässig, dass es auch vielen anderen schon so ergangen ist, großen Frauen und Männern nicht nur aus Politik, Kunst und Wissenschaft, sondern auch dem kleinen Mann auf der Straße und vielen, vielen Hausfrauen und Müttern, sogar Kindern. Nicht nur Komapatienten, auch Krebspatienten, Grippekranke, Altersschwache gehören zu den Verlierern. Das scheint wirklich ein mächtiger Gegner zu sein, der Tod! Manchmal beschleicht mich fast der Verdacht, dass niemand gegen ihn gewinnen kann. Aber den Kampf deswegen aufgeben kommt für mich nicht in Frage! Unsympathisch finde ich, dass er sich so viele bereits durch Krankheit und Alter geschwächte als Gegner aussucht, auch vor Wehrlosen keine Gnade kennt, Flüchtlinge, Kriegsgefangene, vor niemandem macht er Halt! Aber man darf deswegen nicht meinen, er sei feige – er kann nämlich auch ganz anders! Da tut man gut daran, sich niemals leichtsinnig in Sicherheit zu wiegen. Gut, dass man durch solche Überschriften mal wieder daran erinnert wird!

Keiner hat das treffender formuliert als Rainer MariaRilke 1906 in seinem bekannten Gedicht. Ich setze es hinzu, damit meine Leser nicht lange suchen müssen.

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.


Montag, 20. Januar 2014

Keine Nabelschau

Von übertriebener Beschäftigung mit sich selbst kann wohl noch nicht die Rede sein, wenn man einen grauen Tag bei sich verbringt, als sein eigener Gast, sich einen Kaffee serviert, Süßes hab ich leider nichts im Haus, was sagst du? Ah ja, ich sollte ja auch nicht zunehmen, aber sich alles immer nur verkneifen macht doch keinen Spaß! Außerdem, mein Lieber, in unserem Alter … oder musst du noch schön sein, ist da noch jemand, für den du schlank sein musst, umarmbar mit normaler Armlänge? War nur Spaß – es geht ja, wie du richtig sagst, auch um die Gesundheit. Gesund, schlank und rank sterben, das scheint das Ziel vieler Zeitgenossen zu sein. Einen kleinen Spaziergang wenigstens hab ich gemacht, zum Einkaufen. Zum Glück war ich rechtzeitig zurück, sonst wärest du vor verschlossener Tür gestanden. Freut mich sehr, dein Besuch! Was treibst denn immer? Ja, das kenn ich, diese Tage, wo man sich nicht aufraffen kann, zu nichts Gescheitem. Heute ist so einer. Auch darum freue ich mich, nicht allein zu sein. Kleinen Schnaps? Ach komm! Also ich hätte Lust! Nein, allein nicht. Allein macht’s keinen Spaß. Außerdem hast du ja schon wieder recht. Wir könnten ein paar Fotos anschauen. Oder Lesen? Wieso nicht einfach mal nichts tun! Nabelschau? Zu anstrengend! So sitze ich nur so da und betrachte meine müßigen Hände … 


Diese alten Hände

Ich alter Mann
schau sie mir an,
diese alten,
meine alten 
Hände.
Was sie ergriffen, 
was sie ließen,
wen sie kniffen, 
wen verstießen –
was, wen?
Das, den!
Wie sie gekost,
wie gestreichelt,
wem sie Trost,
wem sie geschmeichelt –
wie, wem?
So, dem!
Die Rechte scheint älter,
die Linke ist kälter.
Was sie auch greifen
im Leben, dem reifen,
sie können’s nicht halten,
diese alten,
meine alten
Hände.

 

Samstag, 25. Januar 2014

Der Präsident und Peter

Der Präsident 
hat sich getrennt.
Die Nation schaut zu.
Der Präsident hat eine Affaire.
Durchlebt »schmerzliche Momente«.
Armer Präsident!
Die Première Dame
daraufhin eingeliefert ins Spital. 
»Akute Erschöpfung.« 
Ihre halboffizielle Funktion 
– »First Girlfriend« –
wird beendet.
Der Präsident hat ihr 
den »Laufpass« gegeben.
Mich geht’s ja nichts an. 
Trotzdem muss ich es überall 
lesen und hören dieser Tage.
Ob ich will oder nicht.
»Ob Ihr wollt oder nicht!« 
So der Titel des Films
im Fernsehen.
Eine junge Frau hat
den »Laufpass« bekommen. 
Vom Leben.
Krebs. Austherapiert. 
Sie wird sterben. Bald.
Ihre offizielle Funktion 
– »Lebenspartnerin« –
wird beendet.
Ihr Mann heißt Peter. 
Durchlebt schmerzliche Momente.
Armer Peter! Hat eine Affaire
mit dem Tod.
Wird getrennt.
Nation schaut nicht zu.


Sonntag, 26. Januar 2014

Wie jedes Jahr ist er doch noch gekommen, der Winter. Wenigstens was die Temperatur angeht. Schnee gibt’s hier in Wien – noch – keinen. Aber kalt ist’s geworden. Das Thermometer zeigt minus 10 Grad. Meine Gastherme springt wieder und wieder an, um die Temperatur in der Wohnung konstant zu halten. 

Ich hab’s gut, besser als die elf Prozent der Studenten, die ihre Wohnung nicht heizen können, wie das Institut für Soziologie der Uni Wien mitteilt. Prompt regen sich über diese Meldung nicht wenige Leser auf. Einer schreibt, wenn jeder neunte Student in einer kalten Wohnung sitze, komme das an die Öffentlichkeit, wenn aber jeder zweite bis dritte Mindestrentner sich den A…. abfriere, interessiere das niemanden. Und er schlägt vor, wenn dem Neunten kalt sei, solle er halt zu einem der anderen Acht gehen, um sich aufzuwärmen. Genau! Studenten haben ja Zeit!

Vielleicht sollte man sich aber auch einfach freuen über das Frieren. Denn, wie ich im Kurier lese: »Kälte hilft beim Abnehmen«! Studien in Japan und den Niederlanden haben gezeigt, dass die frierenden Probanden sich »nicht nur wohler fühlten und besser mit Kälte zurecht kamen – auch ihre Körperfettwerte sanken.«

Das ist doch mal eine neue Diät-Idee: Einfach die Heizung abstellen! Die weiteren »Artikel zum Thema« befassen sich denn auch allesamt mit dem Thema Diät, was die meisten Leser bestimmt mehr interessiert als Meldungen über frierende Studenten und Rentner und soziale Gerechtigkeit.

In Polen sind seit Winterbeginn 38 Menschen an der Kälte gestorben, lese ich unter dem griffigen Titel: »Polen bibbert.« 

Eigentlich gefällt’s mir in der warmen Wohnung. Aber aus gesundheitlichen Gründen sollte ich mich vielleicht doch zu einem Diätspaziergang aufraffen, vielleicht auf dem Zentralfriedhof …

 

Sonntag, 2. Februar 2014

Reise in die fremder gewordene Heimat und zurück in die Heimat gewordene Fremde

Nach stundenlanger entspannter Zugfahrt fahre ich ein in die Schweiz und schau an den Bergen hoch, wo wir miteinander wanderten, und plötzlich wird mir bang, mir ist, als hätte ich viel Leben dort oben verloren, das ich nicht mehr zurückhaben kann. Ich rase an meiner Vergangenheit vorbei, hier ist kein Aussteigen, der Zug reißt mich vorüber und immer noch tiefer hinein in meine Erinnerungen, hinein in die Mutterstadt, wo ich aufwuchs und die so viele meiner Jugendträume an ihrem Busen verdursten ließ, dass ich sie nicht mehr vorbehaltlos lieben kann, diese Mutter, die ihre Kinder verschlingt, meine ganze Familie, keiner mehr hier, und auch ich gehöre nicht mehr hierher und sollte mich besser in acht nehmen, hier nicht auch noch gefressen zu werden. 

Warum tue ich mir immer wieder Erinnerungen an? Lebte ich nicht glücklicher ohne sie, im Augenblick, und das würde ja bedeuten: auch frei von Hoffnung, auf irgendwas, was noch nicht ist, vermeintlich aber sein sollte, damit endlich alle Bedingungen zum Glücklichsein erfüllt wären? Hat mir die Jetzt-und-jetzt-und-jetzt-Zeit mit Sabina nicht ganz anderes gelehrt? Kann oder will ich es nicht endlich begreifen?

Ich bin ja nicht der Erinnerungen wegen angereist. Die drängeln sich nur so unverschämt vor, als ginge es um sie. Dabei wollte ich »nur« dabei sein, gegenwärtig, wenn Tochter Anna ihr Rezital fürs Klavier-Masterdiplom spielt und sehen, wie Sohn Elias im Pollesch-Stück im Schiffbau mitwirkt. Nächstes Mal sollte ich vielleicht knapper anreisen und wenn möglich schon mit dem Nachtzug wieder zurück, um den Erinnerungen weniger Zeit im Raum zu geben.

Aber schön war’s. Versöhnt besteige ich den Zug zurück, erinnere mich an ein großartiges Konzert und eine fabelhafte Theateraufführung, schaue mir die Fotos an vom kurzen Spaziergang gestern Vormittag mit diesem einmaligen Licht. Flache Sonne direkt von vorn, selten so gesehen, alle Jahre höchstens nur einmal, wo ich auch immer war. Überhaupt Licht! Alles wird erst erschaffen durch das Licht, die Welt wie auch der Fotograf. Nach zwei Stunden ziehen Wolken auf, und der Zauber ist verflogen, das Leben verflüchtigt von einem Augenblick auf den anderen. Nur noch graue Stadt, graues Pflaster, graue Menschen, kontrastlos, profillos, gestaltlos, alles ineinander zerfließend, verschwimmend grau in grau, Grau zu Grau, Grau bist du, und zu Grau wirst du wieder werden, Asche zu Asche und Grau zu Grau.

Diesmal ist es sogar so, dass die Sonne in der Schweiz zurückbleiben will. Ebenso bleibt zurück der gleichermaßen dicke wie unglückliche Schweizer-Schaffner. Statt seiner keuchenden Ansagen kommen jetzt zackige Fahrgastbegrüßungen aus den Lautsprechern. Während auf der rechten Seite sich kleingeschachteltes Fürstentumgehäusel ineinanderstülpt wird auf der linken die Landschaft schon weiter aufgefaltet. Der Nebel bewahrt den Blick vor dem Anprall an die Berge und nimmt ihn weich auf in die Unendlichkeit. Jetzt, nahe der Grenze, wo mit dem Schloss Sargans die dichtgedrängten Schweizer Sehenswürdigkeiten überstanden sind, kann man sich ein Nickerchen gönnen. Vor Feldkirch wird's nochmals eng, von beiden Seiten drängen sich die Häuser näher heran, nur im Schritttempo zwängt sich der Zug zum Bahnhof durch. Es ist Mittag, im Wagen breiten sich Speisedüfte aus, pausenlos trägt die Bedienung dampfende Teller auf, fast unmöglich, dabei unhungrig zu bleiben.

In der Vorarlberger-Enge scheint wieder die Sonne. Mächtig erheben sich die Berge, das Schweizer-Schullied würde auch hier passen: »Wo Berge sich erheben, da ist mein Heimatland.« Aber es sind halt andere Berge. Liegt's nur daran, dass ich sie nicht beim Namen kenne, so dass sie mir allgemeiner vorkommen, weniger charakteristisch, einander ähnlicher, weniger individualisiert, eigerig oder matterhornig? In Landeck-Zams wird der Zug förmlich gestürmt, von Wochenend- und Ferienmenschen, sie quetschen sich mit großem Gepäck durch den Gang zwischen uns schon ordentlich einsortierten Reisenden, den althergedösten Bier- und Kaffeenucklern mit den schon halb leer gegessenen Kekstüten und bald aufgezehrten Schokoladen. 

Gegen Innsbruck hin weitet sich das Tal, die Schneeberge rücken ab, der Zug nimmt wieder Fahrt auf, 160 Stundenkilometer, kleinere Stationen reißen vorbei, Autobahn Auf-und Abfahrten schwingen sich elegant heran und wieder hinweg, ein Flieger setzt zur Landung an, der bevorstehende Halt wird angekündigt mit Bekanntgabe der Abfahrtsperrons von Regionalexpress-Zügen, plötzlich ist man inmitten von Wohnhäusern und Industrieanlagen, Fahrgäste erheben sich und rupfen ihre schweren Gepäckstücke von den Ablagen, dann der Halt, der Zug leert sich teilweise und füllt sich neu mit schnellen, schnaufenden, schleppenden, vermummten Fahrgästen, die bald auch zur Ruhe kommen werden, schon hört man das nervöse Gepiepse der Türen nach jedem Schließen, und schon rollt der Zug wieder an, die Fahrt geht weiter Richtung Zukunft, die Standardbegrüßung der neuen Fahrgäste wird abgespielt, der Schaffner patroulliert durch den Wagen: jemand zugestiegen, zugestiegen bitte? Die Stadthäuser entlang der Gleise lugen leicht verärgert über die Lärmschutzwände links und rechts, ein paar Schrebergärten, noch eine Siedlung, Kirchen, ein Schloss, eine Gießerei rasen schon bald wieder mit 160 In die Gegenrichtung, der Zug wird von einem Tunnel verschluckt, vorbeigesogen an den Flackerfenstern eines Gegenzuges, 195, dumpfer brüllt jetzt das Echo von der Darmwand des Berges, 210, und dann der Ausstoß, eine Burg grüßt kurz herunter, und schon stechen wir wieder hinein, tauchen unter dem nächsten Berg hindurch, 215, noch länger als vorhin, doch weicher klingend, dumpfer, und wieder ausgespuckt in die offene Landschaft, wir schrammen an Kundl vorbei, lassen die Autos auf der parallel verlaufenden Autobahn rückwärtsfahrend aussehen. Durch Wörgl wird das Tempo sorgfältiger, dann bald wieder ausgelassener trotz aufkommendem Nebel, bei Kufstein werden die Gleisanlagen mehrdeutiger, mit nur noch 60 muss der Zug die richtige Trasse finden, hottert über Weichen und Kreuzungen, bevor er endlich wieder auf nur noch zweispuriger Strecke beschleunigen kann. Die nächste Ortschaft duckt sich hinter die Schallschutzwand, hier in freundlichem Grün, ein Güterzug flirrt buntscheckig vorbei, eine kleine Ortschaft prahlt mit großer Kirche, der nächsten etwas größeren gelingt es, den Zug wieder merklich zu verlangsamen, das muss Flinsbach gewesen sein, aber bald schon wieder 140, über Brücken drüber und unter Brücken hindurch immer geradeaus. Die Frau auf dem Sitz vor mir streckt sich, greift in die Bluse, lässt die Büstenhalterträger schnalzen. Wir lassen Rosenheim links liegen, schwenken rechts nach Salzburg mit nur mehr 60. Die Nachbarin jenseits des Ganges stippt mit spitzem Finger Fotos aus ihrem Handy. Dick und tief hängen die Wolken jetzt am Himmel, wenig gefällig drapiert, der Schnee blödelt nur noch fleckenweise auf der Landschaft herum. Am noch offeneren Himmel im Osten zieht schon eine Vorahnung von Abendrot herauf, obwohl es noch nicht einmal 16 Uhr ist. Wie hingeschmiert füllt Traunstein seine Landschaftsmulde aus, hier liegt wieder mehr Schnee, der blaue Vorahnungs-Osthimmel scheint schon wieder ganz nah. Dort hinten spielen sich ein paar übertrieben gleißende Berggipfel ganz schön auf, aber schon nur noch die obersten Spitzen reichen in die Sonne hinauf. Über die Ebene liegt schon die Schattendecke hingebreitet; hier wird heute trotz 150 und schneller wohl kein Entkommen mehr sein. Freilassing beachtet unsere Vorüberfahrt kaum, während der schon die Ankunft in Salzburg ausgerufen wird. Sonne, tief zwischen den Bergen hindurch. Dom und Burg hell beschienen, sogar der Bahnhof scheint gutgelaunt. So viel unerwartete Freundlichkeit! 

Zwischen Salzburg und Linz reißt mich eine Bremsung aus dem Schlummer. Nun hat sich das Licht auf die Wolken zurückgezogen, lässt deren Oberkanten bizarr aufleuchten, derweil aus den leichtverschneiten Feldern fadenscheiniger Nebel steigt. Das Abendrot hält nicht, was die lange Vorankündigung versprach, zeigt sich nur an vereinzelten Wolken mutiger. Der Horizont hat sich weit zurückgezogen, schwer auszumachen, wo die Erde endet und der Himmel beginnt. Einige Straßen sind schon beleuchtet, hinter vielen Fenstern erwacht schummriges Licht. Vor dem Linzer Bahnhof scheitert das hohe Lampenlicht über den Gleisen noch am Restlicht des Abends, während man um das tiefe Röhrenlicht unter den Perrondächern schon froh ist. Schwer und schwerer drückt die Dämmerung, scheint die flache Landschaft noch platter drücken und weiter auswallen zu wollen. In einer guten Stunde, nach dem Einnachten, werde ich wieder in Wien sein, daheim, zurück in meiner Ammenstadt, hoffend, dass sie mich wieder an ihre Brust nimmt wie bisher jedes Mal, wenn ich schwerer an Erinnerung und leichter an Zukunft wieder angekrochen komme.


Montag, 10. Februar 2014

Wird die Eu nun Panzer schicken?

Böse Zungen behaupten, die Schweiz habe mit ihrem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative den Ast angesägt, auf dem sie sitzt. Nicht alle, aber wenigstens alle Rechtspopulisten im europäischen Ausland wissen den Volksentscheid jedoch zu würdigen und gratulieren hochachtungsvoll und tieferfreut. Marine Le Pen, diese kluge und besonnene Frau, gibt sich allerdings nicht naiver Euphorie hin und ist sich durchaus auch der Gefahr bewusst, die die tapferen Schweizer da heraufbeschwören. Sie twittert besorgt: »Wird die EU nun Panzer schicken?«

Das erfüllte mich nur mit Angst, wenn ich nicht unbedingtes Vertrauen in unsere Armee hätte. Wir haben nämlich auch Panzer! Und wenn wir die drei Jahre Umsetzungsfrist für den Volksentscheid nicht nur damit vertrödeln, Tonnen von hochweißem Papier zu verschreiben, sondern auch den einen oder anderen Alpenbunker wieder seiner eigentlichen Bestimmung zuführen, anstatt sie in Asylunterkünfte umzufunktionieren, dann soll das europäische Ausland mal kommen, die werden sich ganz schön die Zähne ausbeißen! Das sollen die sich lieber zweimal überlegen und sich in Erinnerung rufen, dass im letzten Jahrhundert nicht mal der GRÖFAZ den Angriff gewagt hat!

Das sage ich, obwohl ich hier im österreichischen Ausland nun ziemlich gefährlich lebe. Was, wenn eines Tages die Fremdenpolizei vor meiner Tür steht, mich verhaftet und ausschafft, weil auch für mich die Personenfreizügigkeit nun nicht mehr gilt? Nun, das wäre ja für einen Schweizer nicht so schlimm wie für Bürger gewisser anderer Länder, hätte ich in meiner Heimat doch nicht mit Verfolgung zu rechnen, auch wenn ich sicher suspekter geworden bin durch meine – zugegeben – unüberlegte und überstürzte Übersiedelung ins Ausland letztes Jahr. Zu meiner Verteidigung kann ich beweisen: Eigentlich wollte ich ja in der Schweiz bleiben, habe nachweislich intensiv eine Wohnung in Zürich gesucht, meiner Heimatstadt. Aber da gibt es ja keine Wohnungen mehr, alle von Ausländern besetzt, und für einen Schweizer Rentner viel zu teuer! Das wird aber nun besser werden! Wenn die Deutschen und Italiener endlich den Wohnraum in Zürich wieder freigemacht haben, werde ich mir die Wohnung sogar auswählen können. Und die Preise werden infolge des großen Angebots ohne Zweifel rasch soweit purzeln, dass ich mir die Sicherheit im Mutterschoß auch wieder leisten können werde (das mit dem ß werde ich auch sofort wieder aufhören. Mutterschoss heisst das! Passt ja auch besser, jetzt!).

Drei Jahre also bis zur Umsetzung. Solange muss es mir gelingen, hier unentdeckt über die Runden zu kommen. Muss an meinem Schweizer-Akzent arbeiten! Den wianerischn schoff i ned, also werde ich’s mit Hochdeutsch versuchen. Für einen Deutschen bin ich auch schon gehalten worden, das macht Hoffnung und wäre günstig, verschaffte es mir doch hier wahrscheinlich sogar einen gewissen EU-Mitleids-Bonus. Hoffentlich führt die EU nur keine Abzeichen ein, das Schweizerkreuz, das die Auslandsschweizer sich an die Kleider nähen müssen. In drei Jahren werde ich dann freizügig zurückkehren in eine Schweiz, die wieder meine sein wird, wo es wieder Wohnungen und Arbeitsplätze und Sitzplätze in den Zügen geben und das Rentnereinkommen locker zum Leben reichen wird. 

Paradies, ich komme!

 

Freitag, 21. Februar 2014

Wienerberg

Ob man dem Frühling schon trauen kann? Die Sonne spielt auf der Gasse herum. Die Fußgänger vor meinem Fenster schleppen lange Schatten hinter sich her. Das Thermometer behauptet 12 Grad. Also raffe ich mich auf – ob die Müdigkeit auch schon die Frühlingsmüdigkeit ist? – und wandere los, blinzle ins Gegenlicht, steige an der Knöllgasse in die 1 und fahre zum Stefan Fadinger Platz hoch. Eine Klasse aufgeregter Schulkinder sind von ihrer Lehrerin kaum ruhig zu halten, sehr zum Ärger zweier alter Damen, deren Lebenserfahrung sie davor bewahrt, auf diesen frühen Frühling schon hereinzufallen. Nach dem Aussteigen gehe ich einfach der Sonne entgegen. Mein Schatten lässt sich gerne ziehen. Schon bald zücke ich die Kamera, fasziniert von großer Architektur, und bald habe ich mich fast unbemerkt aus der Stadt hinaus geknipst und befinde mich im Erholungsgebiet, fast kommt’s mir vor wie ein harter Filmschnitt. Nordic-Walker stakeln an mir vorbei, Jogger schnäuzen sich in die Landschaft, die da und dort schon Blümchen und Knospen herzeigt. Vielen Hunden sind ihre Menschen zu langsam, sie strangulieren sich fast am Halsband dem nächsten Baum entgegen hechelnd, um ihre Duftmarke aufzufrischen. Am Wienerbergteich sitzen die Leute auf den Bänken und bieten ihre Gesichter mit geschlossenen Augen der Sonne dar. Der Frühling kommt mir je länger je plausibler vor und bleibt mir die Beweise seiner Gültigkeit nicht lange schuldig: bald beginnen die Augen zu brennen, die Nase zu laufen, und ein paar kräftige Niesanfälle überzeugen mich noch restlos: Frühling! Wir sind wieder einmal herum, ein neuer Zyklus beginnt, das alte Lied von vorn, alles bleibt sich gleich, nur wir sind wieder ein Jahr älter geworden. Da draußen die zyklische Wiederkehr der alten Jahreszeiten, die mit der Vergänglichkeit da drinnen nichts zu tun hat. Neu ist nicht der Frühling, nicht die Sonne, die Knospe, die Blume – neu ist nur der Schatten in meinem Auge, das Knirschen in meiner Hüfte, das Stechen in meinem Knie. Als ich solch ernsten Gedanken an die Vanitas hingegeben wandle, begegnet mir ein anderer alter Mann, etwa im gleichen Alter, mir sogar äußerlich recht ähnlich, weißer Bart wie ich, bleibt stehen, zückt ein Taschentuch, gerade rechtzeitig, um das Niesen am Spritzen zu hindern, lacht mich an mit tränenden Augen und sagt: »Aber schön ist es doch!« Wir heben grüßend die Hand, jeder geht weiter seines Weges und ich weiß: Auch das Vergehen ist nicht neu, gehört zum Zyklus wie die Blumen und Knospen. Es kehrt wieder wie der Frühling, vor mir, mit mir, nach mir. Alles hat seine Richtigkeit. Mit tränenden Augen gehe ich heiter in meine Wohnung zurück, lege die Füße hoch und freue mich, dass mir der alte Frühling neu erglänzt.

 

Donnerstag, 6. März 2014


Sehensunwürdigkeiten

Meine ersten Reisen in ausländische Städte waren die Studienreisen mit der Grafikklasse der Kunstgewerbeschule, die heute soviel bedeutungsvoller »Hochschule der Künste«  heißt. Diese Aufenthalte stellten mich jedes Mal vor große fotografische Probleme, nicht aus technischen Gründen, etwa weil alle 12 Bilder der Film gewechselt werden musste, sondern Entscheidungsprobleme: Was ist sehenswürdig? Ich kann mich noch an meine Not angesichts eines mit speziell geformten Verbundsteinen befestigten Ufers eines Kanals in Rotterdam entsinnen. Das Licht war grad so schön, der Rhythmus der bizarren Schatten faszinierte mich, aber dafür eine Aufnahme opfern? Musste man dafür diese weite Reise machen? Konnte man nachher so eine Aufnahme zeigen daheim und sagen, schau, das ist Rotterdam? Ich ließ es bleiben, konzentrierte mich auf die Architektur, um derentwillen wir schließlich hierher gekommen waren.

Ähnlich erging es mir später als Tourist, etwa in Venedig, wo mich all das Marode ansprang, mich die Zeichen des Zerfalls und des Untergangs mehr faszinierten als die Seufzerbrücke und der Dogenpalast. Irgendwo las ich, dass man keine Fotos machen soll, die man auch als Postkarte kaufen kann, und so wurden die Reisen nach Paris, Florenz, Rom fotografisch eher unergiebig und was die Anschaffung von Postkarten betrifft erstaunlich teuer.

War ich in Zürich, meiner Heimatstadt, hatte ich dieses Problem nicht. Da wäre es mir nicht im Traum in den Sinn gekommen, das Großmünster oder das Stadthaus zu fotografieren. Welcher Ehemann sagt seiner Gattin nach zwanzig Ehejahren immer noch jedes Mal, wenn er sie ansieht, wie schön sie sei, oder schreibt ihr sogar Liebesgedichte? Die Touristen hier in Wien postieren ihre besseren Hälften nicht etwa vor den Sehenswürdigkeiten, weil sie so schön sind, sondern zum Beweis, dass man hier war. Leider kann man ja keine Postkarten kaufen mit der eigenen Frau vor dem Stephansdom. Da kann man die Mühe eines Kniefalls schon auf sich nehmen, um etwas mehr vom Turm im Hintergrund mit aufs Bild zu kriegen.

Eine Sehenswürdigkeit ist im althergebrachten Wortsinn ein besonderes Bauwerk, ein Kunstwerk, etwas historisch oder kunstgeschichtlich Bedeutendes, mehr als bloß eine Attraktion oder eine Sensation. »Würdig« hat immer mit Erhabenheit zu tun, mit Denkmal, Geschichte, Monument. So gesehen fotografiere ich meistens Sehensunwürdigkeiten, Details, Belanglosigkeiten, Kuriositäten – aber erzählen nicht auch sie von Geschichte, von Vergänglichkeit, vom Leben und den Träumen und den Hoffnungen und Enttäuschungen meiner Vorgänger und Zeitgenossen? Und berühren mich diese Geschichten manchmal nicht direkter als der Anblick so manchen Baudenkmals, auch wenn es zum Weltkulturerbe zählt und somit ganz offiziell sehenswürdig ist?

Ich halte es mit Hesse:

»Wenn aus bedecktem Himmel ein Sonnenstrahl in eine trübe Gasse fällt, so ist es einerlei, was er trifft: die Flaschenscherbe am Boden, das zerfetzte Plakat an der Wand oder den blonden Flachs eines Kinderkopfes: er bringt Licht, er bringt Zauber, er verwandelt und verklärt.«

Und:

»Das Schönste ist immer so, daß man dabei außer dem Vergnügen auch noch eine Trauer hat oder eine Angst.«


Mittwoch, 12. März 2014

Gedenktag im Frühling

Ich lass dich los und danke dir,
dass du so lange bliebst bei mir
bis meine Trauer lichter war.

Ein neuer Frühling bricht hervor,
ein neues Blühen strebt empor,
neu wird das Alte, Jahr für Jahr.

Ich schreibe dieses Dankgedicht
bei deiner alten Kerze Licht.
Ihr neues Leuchten macht mir klar:

Wann immer Tod zu siegen schien,
dann schlummerte schon neues Blühn
im Urgrund und ward offenbar.

In allem Werden und Vergehn
wird Liebe ewig fortbestehn,
stets neu erscheinen, wunderbar.

 

Dienstag, 18. März 2014

Ein Pensionist überquert die Straße. Er schaut nach links. Er schaut nach rechts. Entschlossen betritt er die Fahrbahn und schreitet zügig Richtung gegenüberliegender Straßenseite. Mit quietschenden Reifen biegt weiter vorn ein Auto um die Ecke und braust auf ihn los. Der Pensionist steht noch am Anfang seiner Pension, des schönsten Lebensabschnittes, und ist noch gut zu Fuß. Auch Herz und Kreislauf sind noch in Ordnung. Der Adrenalinstoß funktioniert auch noch tadellos. Der rettende Bürgersteig ist nur noch zwei beherzte Sprünge entfernt. Der erste bringt ihn außer Reichweite des Autos, der zweite zu Fall. Er stürzt vornüber, kracht auf die Knie, schlägt mit den Kopf auf dem harten Pflaster auf. Einen Augenblick bleibt er benommen liegen, versucht dann aber sofort, sich aufzurappeln. Eine junge Frau springt erschrocken hinzu. Haben Sie sich weh getan?, fragt sie. Der Pensionist steht schon wieder auf den Beinen. Nein nein, sagt er, entschuldigen Sie bitte, dass ich sie so erschreckt habe. Die Frau lächelt. Wenigstens haben sie keine Verletzung am Kopf. Hab ich nicht?, fragt der Pensionist etwas ungläubig und betrachtet seine blutenden aufgeschürften Hände. Der jungen Frau ist dieser Anblick verständlicherweise nicht angenehm. Sie schüttelt den Kopf und geht rückwärts. Der Pensionist bedankt sich, sucht mit zwei unverletzten Fingern nach einem Taschentuch in den Tiefen seiner Hosentasche. Er findet ein angebrauchtes und beginnt mit dem Abtupfen des Blutes. Dabei fällt ihm auf, dass der kleine Finger der linken Hand so komisch absteht. Zum Glück ist es nicht weit bis in seine Wohnung. Sofort setzt er sich vor den Computer und sucht nach einem Arzt, möglichst in der Nähe, der gerade Sprechstunde hat. Der dritte und der vierte Finger der linken Hand schmerzen, der kleine Finger scheint nicht mehr zur Hand zu gehören. Wie ein überflüssiges Anhängsel steht er schlaff und krumm ab und ist nicht besonders richtig anzuschauen. Es ist nachmittags Kurz nach 1:00 Uhr. Endlich findet er Pensionist eine Ärztin, nur zwei Haltestellen entfernt. Mit schützend um die verletzten Finger gehaltener rechter Hand quetscht sich der Pensionist in die überfüllte Straßenbahn. Ihm ist schlecht. Nach dem Aussteigen geht er zuerst in die falsche Richtung. Bei der Ärztin muss er sich gleich hinsetzen. Man verlangt seine Versicherungskarte. Sie ist bei fast einhändigem Durchsuchen der Geldbörse leider unauffindbar. Trotzdem versorgt die Ärztin seine Schürfungen, macht eine Tetanus-Spritze, vermutet etwas Abgerissenes bei der Strecksehne, schreibt das auf den Überweisungsschein, auf dem er aufgrund der fehlenden Karte als »De facto-Versicherter« bezeichnet wird und schickt ihn zum Radiologen. Auch dort fragt man zuerst nach seiner Versicherungskarte. Mit den zwei intakten Fingern der linken Hand hält er die Geldbörse, mit der rechten Hand gräbt er noch einmal in sämtlichen Fächern nach der Karte, die er auch diesmal einfach nicht finden kann. Hat er sie bei seinem letzten Besuch beim Augenarzt vergessen? Oder liegt sie zuhause auf seinem Schreibtisch? Noch einmal durchsucht er sein Geldbörsel. Er nimmt systematisch alle Karten heraus, steckt sie in seine Jackentasche, aber die e-card ist nicht da. Die Arztgehilfin am Empfang ist eine lustige Frau, die gerne mit allen Patienten ihre Späßchen macht. Aber mit einer verlorenen Versicherungskarte lässt sich nun eimal nicht spaßen. Er muss sie halt später vorbeibringen, das tut ihr offensichtlich nicht so leid, wie sie sagt. Strafe muss sein. Dem Pensionisten ist alles recht, wenn er nur sitzen kann. Endlich wird er von einer vorwurfsvoll dreinblickenden Frau ganz in Weiß ins Röntgenzimmer gebeten. Hat er denn nicht besser aufgepasst? Kaum hat sie die Aufnahme gesehen, schlägt ihr Vorwurf in Mitleid um: oh je, der ist gebrochen. Der Pensionist scheint nicht sonderlich überrascht und nimmt die Nachricht gefasst auf. Er bekommt einen Überweisungsschein ausgefertigt für das Unfallkrankenhaus Meidling. Ohne seine Versicherungskarte müsse er sich da aber gar nicht blicken lassen. Immerhin erübrigt sich aber jetzt deren späteres Vorbeibringen hier. Also fährt der Pensionist zuerst wieder mit der Straßenbahn nachhause, um die Karte zu suchen. Mittlerweile sind seine Finger so geschwollen, dass er auch auf die zwei intakten Finger der Linken verzichten und einhändig suchen muss. Er durchwühlt die Papierstöße auf seinem Schreibtisch, bald sieht es aus wie nach einem Einbruch, durchsucht die Taschen seiner Jacken und Mäntel – nichts! Er steckt die Kreditkarten und Bankkarten und anderen Ausweise wieder in sein Geldbörsel zurück, und hält sie plötzlich in der Hand, die Versicherungskarte. Was für eine Freude! War er denn so aufgeregt? Bist du narrisch! Jetzt kann er ein Taxi rufen und ins Unfallkrankenhaus fahren. Obwohl da schon viele Leute warten, geht es gar nicht lange, bevor er drankommt, halb so lang wie in einem halb so großen Schweizer-Spital vor einigen Jahren, obwohl es da nur um das Verabreichen einer Spritze ging, die beim Arzt nicht vorrätig war. Der Finger wird von drei jungen Ärzten in Ausbildung begutachtet, mit einer Schmerzspritze betäubt, mit einigem Kraftaufwand nach Muster des bis auf ein wenig Arthrose noch heilen Kleinfingers der anderen Hand gerade gerichtet, geschient und gegipst. Zum Erstaunen des Pensionisten reicht der Gips bis zum Ellbogen. Den Pullover kann er nicht mehr anziehen, der Ärmel ist zu eng. Kaum ist der Gips angetrocknet, wird er unten wieder aufgetrennt, und der Pensionist erfährt, dass er am nächsten Tag wieder kommen muss zum Schließen des Gipsverbandes. In den zwei anderen Fingern werden Absplitterungen diagnostiziert und die Gelenke mit Knopflochschienen fixiert. Hautfarben, steht da, aber sie sind viel heller als die bläulich verschwollenen Finger. Der Pensionist würde ein kräftiges Grün oder Rot dieser Babypofarbe vorziehen, doch geht es hier ja nicht um Ästhetik. Noch einmal wird geröntgt; mit einem jungen Arzt zusammen darf sich der Pensionist dann überzeugen, dass der Finger nun wieder recht gerade steht, was durch Einzeichnen einer grünen Linie auf dem Bildschirm doch sehr verdeutlicht wird. Wieder zuhause macht der Pensionist die ersten lustigen Erfahrungen, wie sich der Ausfall von nur drei Fingern auf die täglichen Verrichtungen auswirkt. Von wegen »eine Hand wäscht die andere«! Der Gips darf ja nicht nass werden. Wie das wohl beim Haarewaschen werden wird? Die kommenden vier Wochen werden dem Pensionisten wohl viele interessante neue Erfahrungen schenken. So bleibt das Leben auch im höheren Alter spannend!


Mittwoch, 16. April 2014

So, der Gips ist weg, alle zehn Finger liegen wieder einsatzbereit jeder an seiner Stelle auf der Tastatur und reagieren auf die Hirnströme beim Tippen, fast wie früher, nur dass sich die Linke schwach und unsicher anfühlt. Selbst die millimeterkleinen Bewegungen beim Drücken der Tasten werden begleitet von der Befürchtung, der kleine Finger, noch arg krumm und geschwollen, könnte jederzeit wieder entzwei gehen, da sei jetzt so etwas wie eine Sollbruchstelle. Der Schock wirkt noch nach, den ich hatte, als ich den kleinen Finger nach vier Wochen zum ersten Mal wieder ohne Schiene und Pflaster sah – der scheint mir anders angewachsen als vorher, schiach, wie man hier sagt, das scheint mir dass treffendste Wort zu sein, obwohl ich es erst hier kennengelernt habe, eine schweizerdeutsche Entsprechung will mir nicht einfallen. Scheps? Kurlig? Wüescht? Nein, nichts trifft den Anblick so genau wie schiach! Das erste wirklich assimilierte österreichische Wort in meinem Wortschatz! Nach der Befreiung vom Gips und Verband musste ich vor dem Raum warten, der mit »Befundung« angeschrieben ist, auch ein Wort, das man in der Schweiz nicht kennt. Dort musste ich vorführen, dass ich noch keine Faust ballen kann und bekam eine Physiotherapie verordnet, die schon morgen beginnen wird. Eine Woche zuvor, nach dem Abnehmen der sog. Knopflochschienen an Mittel- und Ringfinger, empfahl mir die junge Ärztin, die damals die Befundung vornahm, einen Schwamm zu kneten. Als ich, übermütig aus Freude über die Teilbefreiung, fragte, ob ich auch schönere Dinge kneten dürfe, schaute sie mich so gschamig an, dass ich mir vorkam wie ein alter Grapscher und froh war, gleich wieder das Weite suchen zu können. In Ermangelung eines Schwammes sowie schönerer Dinge hab ich fleißig meinen Unterarm geknetet. Die Empfehlung des letzten Befunders (ob man so sagt?), die Hand in kaltem Wasser zu kühlen, um die Geschwulst zurückzubilden, habe ich heute ebenfalls eigenmächtig abgewandelt, indem ich gutgekühlte Bierflaschen verwendete. Man wünscht sich ja von ärztlicher Seite mündige Patienten. Jetzt fühle ich mich ein wenig schiach und werde drum ein Nickerchen machen. Schlaf soll ja der Heilung auch förderlich sein. So lasse ich es diesmal bei den rund 1900 Zeichen bewenden und schone die Hand für den Rest des Tages.


Mittwoch, 7. Mai 2014

Ich bin jetzt ein Jahr in Wien.

Eine Erkältung nimmt mir heute die Lust, hinauszugehen. Ich schaue meine Mails durch. Meine Fotoagentur sucht »Kalenderbilder« der Schweiz aus den letzten drei Jahren.

So sichte ich mein Fotoarchiv und lasse mir die Fotos mit dem Stichwort »Schweiz« der letzten drei Jahre anzeigen.

Hm … 3756 Bilder, mal sehen, ob Kalenderbilder dabei sind … Ich markiere die Bilder, die mir mir ins Auge fallen und erhalte so eine Auswahl von 87 Stück. Diese lasse ich mir vom Computer als »Diashow« vorführen und stelle fest, dass mich die schönsten, schärfsten und buntesten Ansichten allesamt anöden. Der Kalender wird wohl ohne Bilder von mir auskommen müssen. Missmutig lösche ich die belanglosesten Postkartenmotive. 33 Bilder bleiben so übrig, die mir irgendwie stimmig scheinen, schweizerisch – mir kommt die Rede von Max Frisch über »Die Schweiz als Heimat« in den Sinn, die er in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hielt, in der er sich fragt, wer eigentlich bestimme, was »schweizerisch« sei. Meine 33 Bilder zeigen mir ein Bild meiner Heimat, das mich irritiert. Da besuchte ich die angesagtesten und nach offizieller Meinung »schönsten« Orte, und was sah ich da? Vogelscheuchen und Schneekanonen, aussichtslose Aussichtspunkte, Nationalhelden und Pappkameraden, Kunststoffkühe, Baustellen, Verbotschilder und Verwehungen, Touristenelend, Unmutsäußerungen und kuriose Innenansichten – ist das die Schweiz? Ist das meine Heimat?

Natürlich nicht! Das sind keine Heimatbilder, da zeigt sich Heimatlosigkeit, bildgewordene Entfremdung. War’s denn so schlimm? Ist es jetzt besser? Bin ich jetzt hier daheim, in Wien?

Das nicht. Wien ist nicht meine Heimat, aber ein Ort, wo die innere Fremdheit der äußeren entspricht. Hier werde ich als Fremder erkannt und geduldet. Hier erwartet niemand Zugehörigkeit von mir. Hier stellt meine Befremdung nicht mich selbst in Frage. Hier darf ich mich wundern ohne gleich ein Defaitist zu sein.

Hier bin ich richtig.


Freitag, 16. Mai 2014

Blockaden

Wie ich hörte, hat einer meiner Lieblingsschriftsteller eine Schreibblockade. Da der Abstand zwischen meinen Einträgen in diesem Blog seit meinem Unfall mit der Hand immer größer wird, könnte ich das auch für mich in Anspruch nehmen – das lieferte eine respektablere Erklärung für mein Schweigen als wenn ich einfach zugebe, dass ich zu faul bin. Ich würde dann auch gleich noch eine Ausgehblockade, Fotografierblockade, Einkaufblockade, Kochblockade, Gesundernährungsblockade, Spazierblockade und Denkblockade geltend machen. 

Auch im Äußeren zeigen sich Blockaden; vor allem die seit Tagen anhaltende Sonnenblockade ist verantwortlich für eine leichte Wohlfühlblockade. Sehr willkommen wäre hingegen eine Regenblockade, die leider nicht eintreten will, so dass gestern die Reißverschlussblockade an meiner Regenjacke für eine Gutelauneblockade sorgte, die eine Unternehmungslustblockade nach sich zog, die bis in die heutigen Morgenstunden in Gestalt einer Aufwachblockade nachwirkte. Nur eine gottseidank wenigstens noch schwach wirksame Verblödungsblockade bewahrt mich vor Schlimmerem und läßt mich in die Tasten greifen, um wenigstens gegen die Erklärungsblockade für meine Mitteilungsfreudigkeitsblockade anzuschreiben.

Dabei geht es mir so gut! Nur eine Privatbereichsöffentlichmachungsblockade hindert mich daran, den Grund dafür detaillierter bekannt zu geben als mit dem allgemeinen Hinweis, dass meine Herzblockade aufgrund glücklicher Fügung anfangs Jahr inzwischen vollständig aufgehoben wurde. Es wird mich freuen zu hören, dass diese Nachricht nicht an Verständnis- und Mitfreublockaden abprallt, was am fortschreitenden Zerfall meiner Weltumarmungsblockade allerdings wenig ändern könnte. 

Meine Überlegungen stoßen zwar schon auf eine Vertiefungsblockade; immerhin hat sich gezeigt, dass es neben hinderlichen und lästigen Blockaden auch nützliche gibt. Eine Blockierungsblockade erscheint mir daher nicht wünschenswert.

Das soeben Geschriebene mag als Beweis genügen, dass ich nicht an einer Schreibblockade leide. Lediglich eine Weiterschreibblockade macht sich bemerkbar, die leider stärker ist als meine Kapitulationsblockade.

 

Montag, 9. Juni 2014

Lebenskontrolle 

Jetzt ist es offiziell beglaubigt:

  • 1.Ich bin am Leben;
  • 2.Ich bin geschieden;
  • 3.Ich bin wohnhaft.


Die Schweizerische Ausgleichskasse hat mir einen Brief geschickt. Zwar wurde ich darin nicht mit meinem Namen angeredet, aber immerhin als »Sehr geehrter Herr«. Ich wurde informiert, dass die Kasse bei den Versicherten regelmäßige »Lebenskontrollen« durchführe. Daher fände ich auf der Rückseite des Schreibens eine Bescheinigung, die ich durch meine Gemeinde oder jede andere gesetzlich anerkannte Behörde beglaubigen lassen wolle. Dafür wurden mir großzügige 90 Tage Frist eingeräumt. Ohne meine Antwort innerhalb dieser Frist würde die Rentenzahlung eingestellt. Um das Briefpapier noch besser auszunützen wurde ich auch daran erinnert, dass alle Änderungen betreffend Zivilstand und Wohnsitz sowie Todesfälle umgehend zu melden seien.

Auf der Rückseite fand sich das Formular mit dem Titel: »Lebens- Zivilstands- und Wohnsitzbescheinigung«, mit dem Text:

»Diese Gemeinde (oder zuständige Behörde) bestätigt, dass REICHERT, PETER WALTER ALBERT, geboren am 07.10.1947 lebt.« Daneben zwei Kästchen zum Ankreuzen durch eine Amtsperson: JA / NEIN. Darunter in Klammern: »(Todesdatum …………………)«. Also auch im Falle meines Todes hätte das Formular dem Magistrat zum Ausfüllen gebracht werden müssen. Der nächste Punkt betraf meinen Zivilstand, nämlich geschieden, wieder mit den beiden Kästchen JA / NEIN. Auch das offenbar eine für die Fortführung der Rentenzahlung unverzichtbare Angabe, was ich mir bis dato nie klar gemacht hatte. Der dritte Punkt betraf meine Wiener Adresse, JA / NEIN. Dann noch Ort und Datum sowie Stempel und Unterschrift. Unter dem Formular fand sich der Text:

»Die Gemeinde (oder die zuständige Behörde) wird gebeten, die vorstehend gemachten Angaben zu überprüfen, allfällige Änderungen anzubringen und die Bescheinigung zu beglaubigen. Die entsprechenden Felder (JA/NEIN) sind unbedingt mit Kreuzchen zu versehen, da sonst bei der automatischen Kontrolle diese Bescheinigung nicht erkannt werden kann, was eine Einstellung der Rentenzahlung zu Folge hätte.« 

Die Beamtin in der Magistratsabteilung 6 machte zu meiner Freude sehr sorgfältige Kreuzchen in die drei JA-Kästchen. Der Stempel lief zwar auf dem billigen Papier etwas aus, sah aber auch so noch sehr eindrücklich und amtlich aus. Noch bekam ich das Formular nicht ausgehändigt, sondern stattdessen eine ausgedruckte Bestätigung über die erbrachte Dienstleistung, die ich zur Kasse bringen musste. Dort hatte ich Gebühren im Gesamtbetrag von EUR 3.27 zu entrichten, wofür mir eine Quittung ausgedruckt wurde, gegen deren Vorweisung mir die ausgefüllte Bescheinigung ohne weiteres ausgehändigt wurde. Diese brauchte ich dann nur noch ins adressierte Antwortcouvert zu stecken, das ich lediglich noch frankieren und absenden musste. Ich hoffe zuversichtlich, dass der Brief in Genf angekommen ist und bei der automatischen Kontrolle die Bescheinigung richtig erkannt werden konnte.

Ich bin sehr froh darüber, nicht verstorben und am gemeldeten Wohnsitz noch immer wohnhaft zu sein, sonst hätte der Postler hier ja nicht einmal mehr den Briefkasten mit meinem Namen gefunden und die Bescheinigung wäre wohl wegen Unzustellbarkeit unausgefüllt retourniert worden. Zwar hätte dieser Umstand dem Amt zwar ermöglicht, das NEIN-Kästchen bei »wohnhaft« selbsttätig auszufüllen, im Fall von »lebt« und »geschieden« aber hätten Zweifel bestanden, die ein korrektes Ausfüllen und somit eine Fortführung der Rentenzahlungen natürlich verunmöglicht hätten. 

Mir ist durch diesen Lebenskontrolle erst bewusst geworden, was für Umtriebe ich durch mein Auswandern alle Jahre wieder verursache und in welchem Ausmaß ich den schweizerischen Behörden ihre Arbeit unnötig erschwere. Das tut mir leid!

 

Donnerstag, 26. Juni 2014

Derselbe Fluss

»Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach. Auch die Seelen steigen gleichsam aus den Wassern empor.« (Heraklit, Fragmente, B 12)

Seit mehr als einem Jahr streife ich jetzt mit meinen Kameras durch Wien, nach wie vor fasziniert von dieser unvergleichlichen Stadt. Noch immer kenne ich sie nicht wie meine Hosentasche, noch immer entdecke ich Neues, aber immer öfter komme ich an Orte, wo ich schon war, sehe ich Bilder, die ich schon aufgenommen habe – und greife trotzdem wieder zur Kamera, mache neue Bilder, andere. Ich sehe das Gesehene anders, Altes neu. Dabei muss ich immer wieder an diesen Satz von Heraklit denken, den ich heute besser zu verstehen meine als damals; es war in der Schule, Lehrer H. las ihn mit bedeutsamer Stimme vor, und ich dachte: So ein Blödsinn. Die Limmat war schon immer die Limmat und wird immer die Limmat bleiben. Da hat schon mein Großvater drin gebadet. Dasselbe scheint mir auch heute für die Donau zu gelten, wenigstens auf den ersten Blick. Heraklits Begründung, nämlich dass »andere Wasser« nachströmen, ist für mich nach wie vor nicht überzeugend. Was ist denn so anders an den nachströmenden Wassern? Ist das nicht immer derselbe Kreislauf? Das Einbeziehen der Seelen in diese Überlegungen macht alles noch viel komplizierter …

Wenn ich einmal nicht mehr hinausgehen kann mit der Kamera, werden andere Fotografen andere Fotos von denselben Orten, Gebäuden, Landschaften machen, auch von ähnlichen Menschen, wenn es auch nicht mehr dieselben sein werden. Neue Menschen, nachgeströmte, und doch wieder den alten so ähnlich wie die nachströmenden Wasser, die den Fluss bilden, der so vertraut und immer noch der gleiche zu sein scheint.

In der Albertina ist zur Zeit eine Ausstellung zu Antonionis Film Blow-Up zu sehen. Ich habe mir den Film wieder angesehen, und er hat mich wieder so beeindruckt wie damals in den »Swinging Sixties«. Mein Sohn Elias hat ihn auch gesehen, und er war eher irritiert als begeistert. Mit sehr guten Beobachtungen hat er die Handlung und die Aktionen und Reaktionen der Handelnden hinterfragt. Vieles erscheint ihm ungereimt, nicht schlüssig, unklar. Ich verstehe seine Argumente. Er hat diese Sechziger nicht erlebt, dieses Lebensgefühl, das in diesem Film so treffend dargestellt wird. Für mich ist es, wie wenn ich noch einmal in denselben Fluss steigen würde, in dem ich damals trieb. Der Film bleibt, wie er ist – da strömen keine andere Wasser nach. Dieses Déjà-vu-Erlebnis kann ein junger Mensch nicht haben, der die Sechziger nur vom Hörensagen kennt. Was in mir hochkommt, ist das Lebensgefühl von damals. Aus diesen Wassern ist meine Seele emporgestiegen, um mit Heraklit zu sprechen. Ich kann mich genau erinnern an diese beunruhigende neue Freiheit, diesen Zerfall alter Strukturen, dieser ersatzlose Untergang alter Werte, diese Sinnkrise, diese Neuorientierung, die keine war, weil die Ziele im Ungewissen lagen, diese Verunsicherung, weil nichts so war, wie es zu sein schien, und wenn man es noch so vergrößerte und noch so genau betrachtete.

Und heute? Ist denn alles so anders? Das würde wohl niemand behaupten. Nur würde ein heutiger Antonioni diesem – demselben! – Lebensgefühl auf andere Weise Ausdruck geben, könnte gar nicht anders: Die Schauspieler trügen modernere Kleider. Die Kamera zeichnete die scheinbare Wirklichkeit digital auf. Die Autos hätten Katalysatoren. Das Drehbuch enthielte nicht mehr so viele haarsträubend frauenfeindliche Äußerungen. Alle hätten Handys.

Ich werde weiterhin durch Wien streifen und Bilder machen. Neue Bilder von den alten Orten, Gebäuden, Landschaften, nachströmenden Touristen. Alte Bilder schon unmittelbar nach dem Druck auf den Auslöser. Wenn man sie später anschaut, wird man vielleicht sehen: die anderen Wasser waren gar nicht so anders. Und die Seelen steigen weiter gleichsam aus den Wassern empor, genau so, wie das dieser steindenkmalgewordene Vorsokratiker Heraklith vor rund 2500 Jahren geschrieben hat …


Mittwoch, 27. August 2014

Erntedank

Der alte Tod kommt wieder
verkleidet als bunter Herbst
aber ich kenne ihn schon von weitem
wie jedes Jahr.

Er betört uns mit Blumen
und Früchten und süßem Duft
aber ich sehe das große Sterben
wie jedes Jahr.

Und mich befällt das Wünschen
dass Winter uns heuer verschont
aber er wird doch auch diesmal kommen
wie jedes Jahr.

Warum nur scheint das Ende
gewisser als neues Blühn?
Aber ich will dran aufs Neue glauben
wie jedes Ja

© Peter Reichert 2018